„Uni Geisenheim“. Keine Antwort habe ich am oberen Mittelrhein so oft auf die Frage nach dem beruflichen Werdegang erhalten wie diese. Wer hier Wein anbaut, hat das im Zweifelsfall in diesem 11.7000-Einwohner-Städtchen in Hessen gelernt, das neben seiner Hochschule vor allem für eine mehr als 700 Jahre alte Linde bekannt ist. Spannend, dass ausgerechnet ein unsterblicher Baum das Wahrzeichen dieser Stadt ist, in deren Hochschule sich so viel um Grünes und Wachsendes dreht.
Eine Residenz wird zur Lehranstalt
Ich wollte diese Winzerschmiede einmal besichtigen und habe dafür Bernd Metz zur Seite gestellt bekommen. Der wissenschaftliche Mitarbeiter, selbst Absolvent der Landschaftsarchitektur in Geisenheim, betreut auch die Kooperationsprojekte der Hochscule mit der BUGA29. Wir treffen uns an einem der ungemütlichsten Tage des Jahres in der Villa Monrepos, die 1861 im Auftrag des Bankiers und leidenschaftlichen Gärtners Heinrich Eduard von Lade als Residenz erbaut wurde und ab 1907 das Herz der Königlich Preußischen Lehranstalt für Obst- und Weinbau bildete. Den König hatte von Lade angeblich mit einer Zusendung selbst gezüchteter Birnen, Äpfel, Trauben und Pfirsiche von seinem Vorhaben überzeugt, eine pomologische Lehranstalt zu eröffnen.
Schon vor der Villa treffe ich auffallend coole junge Menschen an. Sie sehen motiviert aus, lächeln entspannt. Sie scheinen wirklich gern hier zu sein. Ich werde im Verlauf meines Besuchs noch merken, warum.
Bernd ist trotz Regen motiviert, mir eine Führung über das Gelände zu geben. „Ich muss gestehen, ich würde dir gerne noch einige andere Sachen zeigen als den Weinbau“, sagt er und grinst. „Es gibt da ein paar wirklich schöne Projekte… wie viel Zeit hast du?“ Nicht genug, um jeden Winkel des Campus zu inspizieren. Aber genug, um mir von Bernd einen repräsentativen Querschnitt zeigen zu lassen, der im historischen Park der Villa beginnt.
Dieser steht – wie auch das Gebäude – unter Denkmalschutz und weist Stilistiken englischer Landschaftsparks auf, wie wechselnde Blickachsen und geschwungene Wege. Mitten auf der gepflegten Wiese steht ein riesiger Mammutbaum.
Es war einmal ein Garten…
„Schon dieser Parkt ist ein Lehrstück für unsere Studierenden. Landschaftsarchitektur ist mittlerweile zahlenmäßig der stärkste Studiengang. In diesem Park findet man beispielhafte Bodenbeläge, anhand derer die Studierenden ganz praktisch erkunden können, wie sich mit so etwas arbeiten lässt. Und natürlich ein spannendes Spiel mit der Vegetation. Das da hinter dem Tor ist übrigens der Schau- und Sichtungsgarten des Landesbetriebes Landwirtschaft Hessen, eine Lehrstätte der Uni“, sagt Bernd und deutet nach rechts auf ein unscheinbar wirkendes umzäuntes Feld. „Hier werden verschiedene neuen Stauden, Blumenarten, Obst- und Nutzpflanzen getestet, bevor sie auf den Markt kommen. Weil das noch alles in der Versuchsphase ist, ist dieser Bereich unter Verschluss.“
Ein Campus, zu dem unzählige Versuchsfelder, einen Landschaftspark, 36 Hektar Rebfläche und knapp zehn Gewächshäuser gehören, ist für mich völliges Neuland. Verdammt viel Fläche für 1.800 Studierende. Aber die brauchen sie auch, für all die praktischen Forschungsprojekte, an denen hier gearbeitet wird.
18 Fächer kann man in Geisenheim studieren. Neben Oenologie, Landschaftsarchitektur und Gartenbau auch wirtschaftlichere und technischere Gebiete wie Internationale Weinwirtschaft, Getränketechnologie oder Lebensmittelsicherheit.
Wir überqueren die Rüdesheimer Straße und halten uns links. Als nächstes wird mir Bernd die Rebflächen der Uni zeigen. Und ein besonderes Konstrukt, das den Forschenden hier helfen soll, in die Zukunft des Weinbaus zu schauen.
FACE to face mit dem Klimawandel
Auf einem Rebenfeld unweit der Gewächshäuser stehen galaktisch aussehende Stahlmännchen mit grünen Helmen im Kreis und zischen rhythmisch. „Das“, sagt Bernd, „ist die FACE-Anlage.“ FACE-Anlagen simulieren, wie die Luftzusammensetzung in 50 Jahren sein könnte. Testgruppen aus Riesling und Cabernet Sauvignon werden hier konstant mit unterschiedlichen Luftzusammensetzungen konfrontiert, um ihr Wachstumsverhalten im Angesicht erhöhter CO2-Belastung zu erforschen. Gleiches wird für den Agrarsektor an Spinat, Radieschen und Gurken probiert.
Durch mehr CO2 werde vermutlich die Blattgrößen kleiner, erklärt Bernd, während wir, immer weiter in die Weinfelder hineinlaufen, über denen eindrucksvoll die Abtei St. Hildegard thront. „Dadurch reduziert sich die Photosynthese-Leistung und mit ihr ändert sich auch der Ertrag – so die Vermutung. Zusätzlich werden wir stärkere Niederschläge in komprimierteren Zeiten haben und viel Trockenheit im Sommer. Für Riesling wird es zu heiß. Ich habe neulich einen Winzer getroffen, der sagte ‚Unseren Riesling kriegen wir dann nur noch aus Schweden‘. Das war natürlich etwas polemisch. Aber dass es zu heiß wird und der Wein darunter leidet, ist Fakt.“
Vom Kanal zum Bachlauf
Generell spielt die klimatische Veränderung des Mittelrheintals eine große Rolle für die Forschung und Lehre in Geisenheim. 2020 hat die Hochschule an einer großen Klimafolgestudie mitgearbeitet, gemeinsam mit der TH Bingen und der Hochschule Koblenz. Diese gab den Ausschlag für intensive weitere Forschung und verschiedene Folgeprojekte, zu denen auch die Frage nach einem effizienten und sparsamen Einsatz der Ressource Wasser im Weinbau gehört.
„Schau mal, so ist man in früher mit Bächen und Flüssen umgegangen“, sagt Bernd und deutet auf einen eingemauerten kleinen Kanal. „Klaus Werk, emeritierter Professor für Umwelt- und Naturschutzrecht mit Fokus auf Gewässerentwicklung, sagt, die größte Aufgabe, die wir heute haben, sei die künstlichen Einbauten wieder loszuwerden, die bis weit über die 80er Jahre vorgenommen wurden. Ich zeige dir das, weil wir weiter oben im Weinberg schon angefangen haben, diese Kanäle zu renaturieren.“
Zuerst geht es jedoch zur PV-Anlage. Einem weiteren wichtigen Forschungsprojekt in Sachen klimaresilienter Weinbau, das, ebenso wie die FACE-Anlage, erst kürzlich im Rahmen einer ZDF-Doku vorgestellt wurde.
Das Sonnensegel der Zukunft
Wir erreichen die mobile PV-Anlage, die aussieht, wie eine Reihe großer Sonnensegel über den Rebzeilen. Nicht weit weg ist eine statische Version montiert. Die Reben werden hiermit vor Sonnenbrand geschützt, während die Anlage über hunderte kleine Solarzellen Sonnenenergie gewinnt.
Doch es gibt nicht nur technische Überlegungen im Umgang mit der Klimaveränderung. Eine mögliche Handhabung in der Anbaupraxis sind sogenannte Viti- oder Agriforste, sprich eine Mischform aus Wein- oder Gemüsebau mit anderen Kulturformen wie Obstbäumen und -gehölzen, Kräutern und Stauden.
Mehr Leben für die Reben
Erst vor wenigen Wochen habe ich einen solchen Vitiforst besichtigt, in Lorchhausen, auf einem Weinberg des Naturweinguts Heilemann. Kai und Kristina haben beide in Geisenheim studiert und bringen jetzt unmittelbar zur Anwendung, was sie dort gelernt haben. Schon jetzt hebt sich der Vitiforst deutlich von den umliegenden Lagen ab. Vergehen noch ein paar Jahre, wird man dort auf ein ganz eigenes Ökosystem treffen, mit eigener natürlicher Beschattung durch Gehölze, vielen Anzugspunkten für Nützlinge und – auch das ist wichtig – vielseitigen Ertragsquellen für das Winzerpaar, das mit seiner hundertprozentig naturnahen Wirtschaftsweise ganz besonders vom Klima abhängig ist.
„Früher war die Landschaft hier viel mosaikartiger zusammengesetzt, hier etwas Wein, da eine Obstplantage, da eine Weide. Durch die Flurbereinigung gibt es viel größere Weinflächen, also Monokulturen. Eine stärkere Durchmischung verschiedener Kulturen und Nutzungen wäre ökologisch sehr wünschenswert“, findet Bernd und führt mich hin zu etwas, das aussieht wie ein steiniges Bachufer.
„Hier sehen wir den renaturierten Teil des Kanals, den ich dir vorhin gezeigt habe. Dieser Bachlauf hat ein großes Fassungsvermögen durch breitere beckenartige Bereiche, was bei starken Niederschlägen nützlich ist, und die Gestaltung mit Natursteinen lässt eine ganz andere Vegetation zu.“ Auch eine solche Naturraumgestaltung kann für mehr und diverseres Leben auf den Geisenheimer Weinbergen sorgen.
Ein Hochhaus für Krabbelfüßler
Bernd sieht sich suchend um. Er wolle mir noch etwas zeigen. „Den Hochsitz da hinten?“, frage ich. „Ja, genau. Das ist allerdings kein Hochsitz, sondern ein Lebensturm, antwortet er und biegt auf einen neuen Feldweg ein. Beim Lebensturm angekommen, erkenne ich direkt, warum er so heißt: In einem rund vier Meter hohen Holzgestell, das wirklich stark einem Hochsitz ähnelt, bilden Nester aus Zweigen und Naturfasern, Brutkästen und Löchrige Lehmkuben eine Art interkulturelles Insekten-, Reptilien- und Vogelhotel. Solche Lebenstürme kämen inzwischen häufiger zum Einsatz, um für mehr Nützlinge auf Kulturflächen zu sorgen.
Vom Weinberg aus geht es wieder hügelabwärts in Richtung des Campus, wo gerade eifrig gebaut wird. Ein neues Hörsaalzentrum und ein neues Getränketechnologisches Zentrum entstehen hier.
Die roten Friedas
Unser Weg führt zu den Gewächshäusern, in denen eine knallrote Überraschung auf mich wartet. Wir schlendern vorbei an Wänden mit unterschiedlichen Vertikalpflanzmodulen, hinein in die warme Welt der Zimmerpflanzen. Zierpflanzenbau kann man in Geisenheim nämlich auch studieren. Eine davon: Euphorbia pulcherrima, gemeinhin „Weihnachtsstern“ genannt. Hier heißt sie Frieda Freude und füllt allein zwei Gewächshäuser.
Auch das sei so ein Projekt, sagt Bernd, herauszufinden, wie man Weihnachtssterne möglichst ökologisch nachhaltig gezüchtet, transportiert und gepflegt bekommt. Die meisten Weihnachtssterne im Handel sind ein Wegwerfprodukt, das nur wenige Wochen hält, meist eine energieaufwändige Zucht und weite Transportwege im beheizten Lastwagen hinter sich hat und obendrein noch stark mit Pestiziden behandelt wird. Frieda wird hier mit regenerativen Energien warmgehalten und kommt ohne Torferde und Pestizide aus.
Außerhalb der 8.000 Quadratmeter großen, warmen Glaswelt stehen Friedas robustere Verwandte: Im Uni-eigenen Arboretum kann man bestimmt zwei Dutzend Bäume begutachten. Ein kleiner botanischer Garten, der auch in Sachen Aufforstung durchaus interessant werden könnte. Denn hier kann man auf kleinem Raum einer Menge Bäume beim Umgang mit der sich verändernden Witterung zusehen. Den Studierenden und Mitarbeitenden der Uni dient dieser Ort auch durchaus als grünes Pausenzimmer.
Was an Stauden WiZik ist
Direkt nebenan treffen wir Dorothea Leyrer, über eine Sammlung von Pflanztöpfchen gebeugt. „Ah, ist das das WiZik-Projekt?“, spricht Bernd sie begeistert an. „Genau“, sagt Dorothea lächelnd. Der Titel WiZik steht für das „Potenzial von Wild- und Zierpflanzen für Insektenschutz und klimaresistente Begrünung in städtischen Gebieten“ und wird vom Hessischen Landesamt für Naturschutz, Umwelt und Geologie in Kooperation mit der Hochschule Geisenheim und dem Lore-Steubing-Institut durchgeführt. Es zielt darauf ab, Empfehlungen für eine insektenfreundliche Begrünung im urbanen Raum zu entwickeln – eine botanische Antwort auf das Insektensterben der vergangenen Jahrzehnte.
„Unter anderem schauen wir uns Wildstauden und exotische Stauden an und prüfen, welche gleichermaßen insektenfreundlich und klimaresilient sind“, erklärt Dorothea.
Den „Sortenversuch“ findet man direkt auf dem Gelände der Uni, nur ein paar hundert Meter weiter, neben der Obstplantage. Die Beete sind jetzt im Herbst zwar nicht mehr besonders farbenfroh, aber eine standhafte Aster lässt noch erahnen, wie das Beet im Sommer ausgesehen haben muss.
Wenn Bildung blüht
Ich bin nachhaltig beeindruckt von all den Erkenntnissen, die hier heranwachsen. Gekommen bin ich vor allem, um eine Winzerschmiede kennenzulernen. Und ich verlasse einen Ort, der weit mehr ist als das. „Die ökologische Forschung geht in der öffentlichen Wahrnehmung Geisenheims immer ein bisschen unter“, sagt Bernd auf dem Rückweg zur Villa. Jeder, der Geisenheim hört, sagt sofort ‚Ach ja, Weinbau‘, dabei gibt es hier noch viel mehr zu entdecken – und am Ende hängen all diese Fachbereiche miteinander zusammen.“
Unwillkürlich stelle ich meine Studienwahl infrage. Wie interessant muss es sein, handfest an der Zukunft mitzuarbeiten? Vielleicht sollte ich umschulen. Bernd ist selbst ein Fachwechsler. Im ersten Bildungsweg habe er Kultur- und Kunstwissenschaften studiert. Als er sich dann mehr und mehr für Naturschutz interessiert habe, sei die Landschaftsarchitektur in Geisenheim der optimale Weg gewesen. „Das ist auch Gestaltung, aber in einem größeren Maßstab und aufs echte Leben angewandt“, findet er. Ich verstehe jetzt, warum die Studierenden hier so zufrieden aussehen. Sie arbeiten an Projekten, die einen Wert haben und Ergebnisse sehen lassen. Manchmal blühend – und bestenfalls essbar.
Tipp:
Wer sich für die Themen der UNI Geisenheim interessiert, kann manchen Vorträgen auch online beiwohnen – so beispielsweise der Themenreihe „Deutscher Wein“ des Journalisten Daniel Deckers. Auch Formate wie der Geisenheimer Science Pub oder die Science Night sind offen für externe Teilnehmende. Wer mehr zur Hochschulkooperation mit der BUGA29 erfahren möchte, sollte sich das BUGA Lab auf Instagram ansehen. Auch hier finden regelmäßige Veranstaltungen zur Information der Öffentlichkeit statt.