Die Landschaft des Mittelrheintals ist geprägt durch große Rebflächen, die teilweise kilometerweit den Hang bedecken. Nur ganz selten sieht man einmal vereinzelte, kleinere Rebflächen ohne direkten Anschluss. Eine davon hat es mir besonders angetan. Wie eine Briefmarke klebt dieser kleine Wingert innerhalb von dichtem Baum- und Buschbewuchs am Hang der Loreley und sieht, obwohl es keinen sichtbaren Zuweg gibt, gut gepflegt aus. Was ist das für ein geheimer kleiner Garten? Und wer kümmert sich um ihn?
Die Antwort ist ein verantwortungsbewusstes Paar aus St. Goarshausen, das verdammt gut zu Fuß ist. Anke Heil und ihr Partner Jan Born bewirtschaften das rund 0,1 Hektar kleine und ziemlich steile Fleckchen Erde, das man tatsächlich nur über einen schmalen, versteckten Pfad betreten kann.
Ein Leidenschaftsprojekt
Anke stammt selbst aus einer Winzerfamilie und hat das Winzerhandwerk von Klein auf gelernt. Hauptberuflich arbeitet sie allerdings nicht im eigenen Betrieb, sondern als Bürokraft für Verkauf und Marketing bei einer anderen Kellerei in der Gegend. Ihr Partner Jan Born arbeitet bei der Berufsfeuerwehr. „Wir haben erst im letzten Jahr mit eigenem Weinbau gestartet“, sagt sie. Allein deshalb sei erst mal noch kein Vollerwerb drin. Dennoch war für die beiden sofort klar, dass sie sich um diesen besonderen kleinen Weinberg an der Loreley kümmern wollten, dessen pensionierter Besitzer dringend eine Nachfolge suchte.
Anke stapft mit routinierten Schritten die kleine Steintreppe hinauf, die hinter einem Bahndurchgang am Loreleyfelsen den bewaldeten Berg hinaufführt. Einige Meter weiter zweigt links ein schmaler, unscheinbarer Weg ab. Nach einem kurzen, recht steilen Aufstieg über diesen gezackten Pfad eröffnet sich ein kleiner Garten Eden ordentlicher Rebzeilen. Wunderschön und verzaubert sieht das aus. Im Hintergrund glitzert der Rhein in der Sonne, die an diesem Tag mit 38 Grad vom Himmel brennt.
Alte Reben
Die Rebstöcke sind knorrig – Jahrgang 1964, wie Anke berichtet. „Das Außergewöhnliche hieran ist, dass das alles noch wurzelechte Reben sind, das heißt, sie haben keine schädlingsresiliente Unterlage wie das heute bei vielen Rieslingen der Fall ist.“
Aufgrund des starken Reblausbefalls im 19. und 20. Jahrhundert, der den Weinbau vielerorts ausrottete, setzte sich das Aufpfropfen als Anbauform für neue Reben durch. Schädlingsresiliente „Unterlagen“ hindern Wurzelfresser daran, den Stock anzugreifen. Auf ihnen können so gesunde heimische Reben wie Riesling wachsen.
Anke möchte die originalen, ungepfropften Reben so lange wie möglich erhalten, deshalb zieht sie neue Reben aus den alten nach.
Mit Händen und Füßen
Die Bewirtschaftung dieses besonderen, kleinen Wingerts erfolgt komplett in Hand- und Fußarbeit. Ihre Lese müssen Anke und Jan selbst den steilen, schmalen Pfad heruntertragen. So wie auch alle anderen Arbeiten von Hand und zu Fuß erledigt werden. Allein eine Motorsense hilft beim Mähen.
Warum tut sich jemand diesen Aufwand an? Und dann auch noch in der eigenen Freizeit? Anke lacht. „Tja, das ist unser Liebhaber-Weinberg. Wir wollen einfach nicht, dass der irgendwann mal brachliegt. Und wir finden es schön dazu beizutragen, die alten Kulturflächen zu bewahren“, sagt sie bescheiden. „Und wenn ich nach der Arbeit noch in den Wingert gehe, um mich hier um die Reben zu kümmern, ist das wie Urlaub. Wenn man hier draußen ist und die Schiffe fahren vorbei – das ist einfach Erholung.“
Die Essenz der Loreley
Ungefähr 1.000 Reben stehen hier oben. Entsprechend klein sind die Erntemengen. 2023 haben Anke und Jan nur 200 Flaschen Loreley-Riesling erzeugt, der größtenteils in lokalen Gastronomien ausgeschenkt wird. „Weil wir hier so alte Reben haben, sind die Trauben sehr klein, wodurch sehr konzentrierte Weine entstehen. Letztes Jahr hatten wir ein Mostgewicht von 98 Grad Öchsle. Das ist schon im Auslesebereich“, erklärt Anke. „Die Weine sind sehr geschmacksintensiv und gut lagerfähig.“
Einen Namen hat der Weinberg übrigens auch – zumindest einen Spitznamen: Die meisten nennen ihn „Adlerhorst“, vermutlich aufgrund seiner nestähnlichen Lage im Berg. Für ihren Wein nutzen Anke und Jan diesen Namen allerdings nicht. Der sei so mit Hitlers Führerhauptquartier im Taunus verbunden und eine solche Konnotation wolle man nicht haben. Deshalb heißt der Riesling, den dieser verträumte, kleine Wingert hervorbringt, „Loreley Edel“. Ihren Winzerbetrieb führen Anke und Jan unter dem Titel BOHEI – ein Kofferwort aus ihren Nachnamen Born und Heil.
Das Winzerpaar kümmert sich jedoch nicht ausschließlich um den Adlerhorst, sondern bewirtschaftet im eigenen Weinbau zusätzlich 0,8 ha aus dem elterlichen Berieb in Kaub und als Teil der Winzergenossenschaft auch einige Weinberge entlang des Weinlehrpfades in der Flurbereinigung Bornich.
Genossenschaftsweine
Die Winzergenossenschaft ist eine Vereinigung nicht vollerwerbstätiger Winzerinnen und Winzer, die bereits seit 1934 existiert. Ihre Mitglieder haben mit der Genossenschaftskelterei in Bornich eine feste Abgabestelle für ihre Trauben und damit eine feste Einnahmequelle, ohne sich selbst um die Vermarktung der Weine kümmern zu müssen. Zudem sind die Rebflächen über die Genossenschaft versichert, beispielsweise gegen Hagelschäden.
Früher habe fast jeder Ort so eine Genossenschaft gehabt, sagt Anke. „Damals gab es aber auch noch mehr ‚Feierabendswinzer‘ mit sehr kleinen Anbauflächen. Für die hätte sich eine Eigenvermarktung gar nicht gelohnt.“ Auch heute sind noch fast alle Mitglieder der Genossenschaft Nebenerwerbler.
Abgesehen vom Erzeugen eigener Weine engagieren sich die 60 Mitglieder aber auch in Sachen Nachwuchsförderung und Landschaftspflege. In Kooperation mit dem Naturschutzprojekt FINK hat die Genossenschaft für die Erschließung und informative Beschilderung eines Weinlehrpfades an der Loreley gesorgt. Dieser verbindet die Genossenschaftsweinberge und informiert auf Hinweistafeln über die umgebende Natur. Passend dazu wird jährlich ein Naturschutzwein herausgebracht, dessen Etikett und Beiblatt Informationen und selbstgestaltete Skizzen besonderer Tiere und Pflanzen der Region enthalten.
Mit der Touristikgemeinschaft Loreley-Burgenstraße wiederum ist 2007 das Projekt „Mein Weinsteig“ entstanden, das es Interessierten ermöglicht, die Arbeit der Winzer*innen praktisch kennenzulernen. Die monetären Beiträge, die die „Weinsteiger“ für dieses Erlebnis zahlen, kommen der Neuanlage von Rebflächen zugute. „Ich finde es schön, so in der Gemeinschaft zu arbeiten“, sagt Anke. Zumal die Genossenschaft im Großen genau das macht, was Anke und Jan mit ihrem Adlerhorst im Kleinen verfolgen: Kulturlandschaft erhalten.
Wer künftig an der Loreley vorbeifährt und die Augen offenhält, wird den Briefmarken-Wingert jetzt sicher nicht mehr übersehen, auf dem die Essenz der Loreley heranwächst. Und wer gut zu Fuß ist, kann diesem besonderen Ort sogar einen Besuch abstatten. Das ist erlaubt, solange den alten Reben mit dem nötigen Respekt begegnet wird.
Eine kleine Verkostungsnotiz:
Loreley Edel duftet nach einer Wanderung durch Wälder und Magerwiesen und schmeckt nach Schiefer, Sonne, Äpfeln und Kräutern. Eine gut eingebundene Säure wird von ganz milder Süße abgefedert. Mittelrhein im Glas!