Im Gespräch mit Professor Stefan Neuhaus von der Uni Koblenz
Ein „kurzer“ Blick in die literarisch-kulturhistorische Entwicklung der Loreley-Figur geht eigentlich nicht so recht – zu lange gibt es Geschichten um den gleichnamigen Felsen, zu oft wurde die schöne Frau, die wahlweise als Verlassene, Verführerin, Nixe oder Hexe auftritt, beschrieben und sogar um ihre Urheberschaft hat die Wissenschaft lange gestritten. Gemeinsam mit Stefan Neuhaus, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Uni Koblenz, habe ich es dennoch versucht. Ein Interview über Misogynie, Metaphern und Misinterpretationen – für das ein wenig Basiswissen über die Loreley nicht schaden kann. Das gibt es zum Beispiel HIER.
Es gibt diverse Theorien über die Entstehung der Loreley – die einen sagen, Brentano sei der Schöpfer dieser Figur, die anderen behaupten, auch er habe nach folkloristischer Vorlage gearbeitet. Wer hat recht?
Es gibt immer irgendwelche lokalen Sagen. Und beim Loreleyfelsen ist es ja so, dass die Strömung des Rheins an dieser Stelle sehr stark ist, was das eine oder andere Schiff zum Kentern gebracht hat. Das hat einen bestimmten Mythoskern geschaffen, und ich gehe auch davon aus, dass Brentano darauf zugreift. Die eigentliche Initiation dafür, dass dieser lokale Mythoskern erst zu einem regionalen, dann nationalen und internationalen Mythos wurde, das ist auf die Ballade von Brentano und später auf die von Heine zurückzuführen.
Wie wahrscheinlich ist es, dass es neben dem Felsen und den ihn umgebenden Erzählungen auch eine menschliche Vorlage für Brentanos “Lore Lay”-Geschichte gab?
Unwahrscheinlich. Uns begegnet hier ein Muster. Mythen entstehen aus dem Versuch, sich Phänomene zu erklären, die noch nicht erklärbar sind. Im Mittelalter sind wir nicht im wissenschaftlichen Zeitalter angekommen, und dass Menschen bei der Umfahrung dieses Felsens im Rhein sterben, das musste man sich magisch erklären. Und Frauen sind damals sowieso an allem schuld; die Femme fatale wurzelt in mittelalterlichen Vorstellungen. Entweder sind es junge und schöne Frauen, die Männer verführen und ins Verderben bringen, oder es sind alte hässliche Frauen, die Männer verhexen und ins Verderben bringen. Das sind stereotype Figuren, die seither überall aufzufinden sind. Dass eine reale Begebenheit dieses Muster, das wirklich überall vorkam, ersetzt haben soll oder eine Ausnahme der Regel darstellt, ist höchst unwahrscheinlich.
Ich beziehe mich jetzt aber erstmal nur auf Brentanos Lore Lay, nicht auf das gesamte Phänomen rund um den Felsen. Denn die lässt ja noch gar keine Schiffe kentern…
Naja, sie verführt Männer. Sie sind ihr verfallen.
Aber Brentanos Loreley lockt sie noch nicht aktiv ins Verderben. Es gibt durchaus spätere Varianten dieser Figur, die aktiv in den Untergang von Schiffen involviert sind. Brentanos Loreley tut nichts dergleichen, im Gegenteil. Sie begeht Suizid und aus was für Gründen auch immer sterben die drei Ritter auch – wobei man nicht mal so genau weiß, wie und warum.
Wenn wir in die Interpretation dieses Textes als literarischen Text einsteigen, haben Sie recht. Es gibt Bruchstellen, und die sind auch nicht so einfach auflösbar.
In der Literatur der Romantik werden alte Motive zum Spielmaterial. Wir müssen unterscheiden zwischen den Mythen, wo wirklich Leute glaubten, dass junge schöne Frauen, die verführerisch daherkommen, grundsätzlich böse sind, zumindest, wenn sie dann auch noch auf einem Felsen sitzen (lacht), und der Literatur, die das als Stoff- und Motivreservoir benutzt, um zum Beispiel das Gefühl der Romantik darin einzubetten.
Eichendorff lässt die Loreley 1815 im Wald auftreten, da erinnert sie fast an den Erlkönig…
Genau, da sieht man gut, wie ein Stoff zum Spielmaterial wird. Ein ganz bunter Text dieser Zeit ist Ludwig Tiecks ‚Der blonde Eckbert‘ von 1812, da findet man den berühmten Begriff der ‚Waldeinsamkeit‘. Und auch da kommt eine alte Frau im Wald vor, ein anderer Prototyp, der damals kursierte. Bei Eichendorff vermischen sich also zwei Prototypen.
Die Figur Loreley kommt in den verschiedenen Texten auch mit unterschiedlichen Symbolen daher. Was hat es zum Beispiel mit dem goldenen Kamm und den goldenen Haaren auf sich?
Gold war etwas Wertvolles, etwas Auffälliges, es hat die farbliche Nähe zur Sonne. Gold steht für den Mythos – denken Sie an König Midas, den Teufel mit den drei goldenen Haaren. Ein typisches Märchenmotiv. Ein stereotypes Symbol für etwas Herausragendes. Es kann auch für Macht stehen.
Apropos, Macht: Gibt es vielleicht Ansätze, die Loreley umzudeuten? Weg von dieser misogynen Lesart der unheilvollen Frau? Man könnte ja auch behaupten, sie sei eine feministische Ikone: Sie hat Macht, entscheidet über Gedeih und Verderb der Männer, die sich selbst nicht zu helfen wissen.
Das stimmt. Finde ich eine total gute Idee. In Karikaturen gibt es das ziemlich sicher schon. In der Literatur kann ich es nicht sagen. Aber bei dem Gedanken würde ich absolut mitgehen. Ich fände es wünschenswert, wenn man die Loreley umcodieren könnte.
Ein letztes Mal zurück zu Brentanos Lore Lay. Ich bin über seine letzten Verse gestolpert: „Wer hat dies Lied gesungen? Ein Schiffer auf dem Rhein, und immer hats geklungen von dem Dreiritterstein: Lore Lay! Lore Lay! Lore Lay! Als wären es meiner drei.“ Outet er sich hier als einer, der selbst der Lore Lay verfallen ist?
Das ist typisch für die Romantik, am Ende wird die Ballade metafiktional, sie verweist auf sich selbst als Dichtung. Dann die Drei als heilige Zahl. ‚Meiner drei‘ könnte man auch so deuten, dass der Autor auf sich selbst als Schöpfer des Textes verweist – die Heilige Dreifaltigkeit wird hier vertreten durch den Autor, der diese Welt der Ballade erschaffen hat, um das mal ein bisschen zuzuspitzen. Das ist aber durchaus ironisch zu lesen. Dass sich Brentano hier ernsthaft zum Gott stilisieren will, glaube ich nicht.
Gibt es vergleichbare literarische Figuren, die so lange eine so große Rolle gespielt haben, so viel Metaphorik in sich vereinen?
Die Loreley ist schon ziemlich ungewöhnlich. Ihre Popularität erklärt sich auch daraus, dass die Figur zusammenfällt mit der Bedeutung des Mittelrheins als einer der ersten großen touristischen Regionen: Das Zentrum des beginnenden touristischen Reisens, verbunden mit dem Historismus der Romantik, der versucht, in der Vergangenheit die eigene Gegenwart und Zukunft zu entdecken. Es gibt Regionen, die über Literatur und literarisch verarbeitetes Sagenmaterial eine Qualität bekommen, die dazu anregt, sie zu bereisen. Das Loch Ness mit Nessie ist zum Beispiel vergleichbar. Und wie viele Leute fahren nach Verona und gucken sich diesen Balkon an, obwohl es Romeo und Julia nie gegeben hat?
Interessanterweise ist Heinrich Heines Loreleytext der Bekannteste – dabei ist der er doch irgendwie uneindeutig. Er wirkt anekdotisch, man könnte da verschieden Haltungen reininterpretieren…
Heine gilt als der große Spötter. Das ‚Buch der Lieder‘, in dem auch die Loreley vorkommt, ist voller Texte, die ambivalent sind, weil sie einerseits die Tradition der Romantik aufgreifen, sie andererseits aber parodistisch unterlaufen. Heine ist kein Romantiker im klassischen Sinne. Die Romantiker glauben an Transzendenz, an etwas Übernatürliches. Und Heine macht sich darüber lustig. Das ist das Wunderbare an dem ‚Buch der Lieder‘: Heine macht sich über die Romantiker lustig, aber dieses Werk wird als Paradebeispiel romantischer Literatur rezipiert. Das ist eine Falle: ‚Ich weiß nicht, was soll es bedeuten..?‘ – Ja , warum erzählst Du es dann? Und dann diese Häufungen. Gold kommt sehr oft vor, das ist ganz bewusst formelhaft übertrieben. Ich würde sagen, dieses Gedicht ist eine Travestie. Wird aber in der Rezeption zu dem typischen Sehnsuchts- und Romantikgedicht. Eine völlige Fehlinterpretation. Heine lacht wahrscheinlich heute noch im Grab darüber (lacht mit Heine mit).
Haben Sie einen Lieblings-Loreleytext?
Den von Kästner: ‚Der Handstand auf der Loreley‘, ganz eindeutig. ‚Man stirbt nicht mehr beim Schiffen, bloß weil ein blondes Weib sich dauernd kämmt.‘ Ich finde Kästner einfach unheimlich witzig. ‚Humor ist der Regenschirm der Weisen‘ – auch von Kästner!
Feines Lesevergnügen! Und den Kästner kannte ich noch nicht 🙂
Vielen Dank! 🙂
Ob Harry Heine im Grab darüber lachen kann, dass sein Lied (bis Fritz Silcher es 1837 mit süßer Soße übergoss, blieb es melodielos) »zu dem typischen Sehnsuchts- und Romantikgedicht« mutiert ist, wie Prof. Neuhaus meint, weiß ich so wenig wie er. Wundern würde es mich nicht.
Richtig ist, dass es erstmal um einen eindrucksvollen Felsen geht und nicht um eine beeindruckende Frau. Dass dort einst Kähne gekentert sind, wenn unaufmerksame Schiffer das seinerzeit großartige dreifache Echo auslösten statt auf die Stromschnellen zu achten, ließ den unheilvollen Mythos aufblühen.
Brentano soll der erste gewesen sein, der daran eine Geschichte knüpfte. Seine Ballade von der schönen Zauberin Lore Lay (1801) beginnt überraschenderweise mit dem Vers »Zu Bacharach am Rheine« und nicht etwa mit dem Vers »Zu Sangewer am Rheine«. Und den Felsen nennt Brentano »Dreiritterstein«, denn drei Ritter lässt er dort zu Tode kommen, als sie auf Weisung des Bischofs die liebes- und lebensmüde Zauberin Lore Lay zu einem Kloster eskortieren sollen, was aber misslingt, da besagte Lore sich von einem Felsen in den Tod stürzt.
Clemens Brentano, der 1778 in Ehrenbreitstein geboren worden war, kannte den Mittelrhein gut. Im Juli 1802 – das linksrheinische Gebiet gehörte inzwischen zum französischen Staatsgebiet unter Napoleon – fuhr er zusammen mit seinem Freund Achim von Armin in einer Woche rheinabwärts von Mainz nach Koblenz und konnte ihm den Felsen zeigen, der in seinem Lore-Lay-Gedicht – erschienen ein Jahr zuvor in seine »verwilderten« Roman Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter – eine tragende Rolle spielt. Interessant ist, die erste, handschriftliche Fassung mit der Druckfassung zu vergleichen.
Heine kannte natürlich die Druckfassung, und er kannte die Engstelle und den Felsen hinter Sankt Goar ebenfalls, mehrmals hatte er als junger Mann seinen Vater per Schiff stromauf nach Frankfurt begleitet. Sein ohne einen Titel 1824 erschienenes Lied beginnt nicht ohne Grund mit der Zeile »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten«, dass ein »Mährchen aus alten Zeiten« ihn »so traurig« macht. Macht er sich lustig über Brentano? Bläst dessen Zauberin zur schönsten Jungfrau auf, mit goldenem Haar, ebensolchem Geschmeide und einem passsenden Kamm. Und singen lässt er sie (bei Brentano sang noch ein Schiffer), sie singt kein Liedchen, sondern eine »gewaltige Melodei«. Den Namen Lore-Ley nennt er erst in der letzten Zeile.
Brentano und Heine waren längst unter der Erde, als 1871 (das Kaiserreich war gerade mit Blut und Eisen geschaffen) Johann Georg Theodor Grässes Sagenbuch des Preußischen Staates erschien, in dem er gleich zwei angebliche Sagen referiert: Die eine variiert Brentanos Story, die andere rankt sich um eine veritable Nixe, in die sich der Sohn des Pfalzgrafen bei Rhein (remember: Kaub war der nördliche Außenposten des dieses Kurfürstentums) verliebt, der elendiglich ertrinkt.
Die These von der angeblichen »feministischen Ikone« Loreley scheint mir echt weit hergeholt, was wäre gewonnen, wenn man die Story entsprechend »umcodieren« könnte? Ich verweise hier mal auf die (recht bemühte) Masterarbeit von Diana Drathen: Das Frauenbild der Loreley zwischen 1800 und 1939 im Hinblick auf das bürgerliche Frauenideal (Tampere 2020).
Noch etwas zu Kästners Turner (1932), der – wehmütig an die Loreley von Heine denkend – beim Handstand abstürzt und sich – »er starb als Held« – das Genick bricht. 1935 ließen die Nazis dort eine »Thingstätte« erbauen mit 5.000 Plätzen. Heines Bücher waren da schon auf dem Scheiterhaufen gelandet.
Zum Schuss ein Hinweis auf Karl Valentins Travestie (hier passt der Begriff!). Auf youtube ist eine Aufnahme von 1941 für die Reichsrundfunkgesellschaft zu finden. Die Nummer ist aber älter: Valentin hat sie bereits 1916 geschrieben und ist damit immer wieder aufgetreten: Mit Langhaarperücke und Harfe und in einem weißen Leibchen. Textprobe: »Viel tausend Jahr hock ich hier oben / bei Sonnenschein, Regen und Schnee / auf diesem steinigen Felsblock, / mir tut schon mein Rückgebäud weh. / Ich singe und zupfe die Harfe, | ich wüßt ja net, was i sonst tat, / ich weiß nicht, was soll es bedeuten, / das Lied wird mir jetzt schon bald fad!«