Geschichte 3D

Mark und Thomas am Wilhelm-Erbstollen

Wie digitales Kulturerbe entsteht

Die Zeit hinterlässt ihre Spuren – das illustrieren besonders eindrucksvoll historische Gemäuer, die sich selbst überlassen sind. Wenn alte Pracht nicht am Schwinden gehindert wird, ist sie schnell verblasst. Denkmalpflege und Restauration wirken dagegen präventiv, aber nicht jeder Kunstschatz, nicht jedes historische Gebäude kann in seinem Zustand gehalten oder gar in einen besseren versetzt werden. In solchen Fällen gilt es, digital zu konservieren, was noch da ist. Und einer, der das macht, heißt Thomas Merz.

Thomas, wir haben ihn schon in einem anderen Beitrag kennengelernt, ist eigentlich Biologe mit Schwerpunkt Vegetationskunde. Mit seinem Unternehmen viriditas berät und unterstützt er in Sachen Artenschutz an Gebäuden und im rechtssicheren Umgang mit geschützten Arten – beispielsweise, wenn Bau- oder Sanierungsprojekte umweltschonend vorbereitet werden müssen.

Thomas ist aber auch ein ungemein geschichtsinteressierter Mensch und hat sich in den letzten Jahren einen zweiten Arbeitsschwerpunkt gesetzt: die digitale Dokumentation und Präsentation kulturhistorisch bedeutsamer Flächen und Gebäude. Mithilfe verschiedener Tools kann er umfassende Geo- und Bilddaten erfassen und bedarfsweise zusammensetzen. Besonderes Steckenpferd des Diplom-Biologen sind 3D-Scans, verarbeitet zu virtuellen Rundgängen.

Barrierefreie Geschichtsvermittlung

Damit begegnet Thomas Merz einerseits den Herausforderungen in der Konservierung historischer Stätten, wie sie die Region gerade hat. Man denke nur an renovierungsbedürftige Burgen wie die Rheinfels, die derzeit in ein dickes Gerüst verpackt und nicht vollständig begehbar ist. Oder an Lost Places wie das verlassene Thermalbad in Lahnstein, das zwar abgesperrt und kameragesichert ist, aber trotzdem regelmäßig von Lost-Place-Huntern aufgesucht wird. Die Anziehungskraft solcher Orte ist einfach zu groß.

Andererseits öffnen Thomas‘ digitale Zwillinge Menschen einen Zugang, die aufgrund körperlicher Einschränkungen oder psychischer Erkrankungen sonst keinen hätten. Die Welt historischer Gemäuer ist bisher noch eine ziemlich exklusive.

Von einzelnen Räumen bis hin zu ganzen Straßenzügen haben Thomas und seine Mitarbeitenden schon über 50 spannende Orte digital konserviert und barrierefrei gemacht. So etwa den Weg aus der Altstadt von Bacharach über den Postenturm bis zur Ruine Stahlberg in Steeg, den Jüdischen Friedhof in Bingen, das Museum am Strom Bingen und – ein ganz besonderes Projekt – die Liebfrauenkirche in Oberwesel, deren kunstvoller mittelalterlicher Hochaltar und Wandmalereien aus dem 16. Jahrhundert nur bei seltenen Führungen live besichtigt werden können.

Wie man 3D-Welten baut

Möglich macht diese 3D-Scans eine Laser-Kamera des Marktführers Matterport, die mit einem speziellen Verarbeitungsprogramm gekoppelt ist. Das Programm kann mithilfe von Bilderkennungssoftware genau anzeigen, an welchem Punkt der jeweils nächste Scan gemacht werden kann. Diese Punkte dürfen nicht mehr als sieben bis acht Meter auseinanderliegen, damit das Programm die Einzelbilder – genannt Captures – flüssig zusammenrendern kann.

Das Verarbeitungsprogramm von Matterport zeigt detailgenau den bisherigen Scan-Forschritt

Auf diese Weise wird detailgenau alles fixiert, was auch das menschliche Auge beim Rundgang wahrnimmt. Für den virtuellen Blick von oben können die Aufnahmen der Matterport mit Drohnenaufnahmen kombiniert werden.

Eigenständiges Erkunden

Anders als Videodokumentationen haben die so erschaffenen digitalen Zwillinge den Vorteil, dass Interessierte sie im eigenen Tempo erkunden können. „Wenn Sie ein Video haben, müssen Sie zwingend der Kamera folgen. Sie können nicht selbst entscheiden, ob Sie nach links, rechts, vorn oder hinten blicken wollen. Mit unseren 360-Grad-Aufnahmen kann jeder sich einen Ort so anschauen, wie er möchte“, sagt der Touristiker Mark Pryshchepa, der Thomas Merz seit 2019 unterstützt.

„Dollhouse“-Ansicht des Kauber Schieferrundgangs

Kauber Schieferrundgang

Im Spätherbst 2024 arbeiten die beiden bei eisigen Temperaturen an einem Schiefer-Rundgang in Kaub. Vom Rheinufer aus bis hinein in die Gebäude des ehemaligen Schiefer-Bergwerks Wilhelm-Erbstollen wird es gehen, wenn der Scan fertig ist. Betreut wird das Projekt durch den Kauber Schiefer e.V. in Person von Wilfried Radloff.

Mark und Thomas am Wilhelm-Erbstollen

Sobald die Kamera startklar ist, vollführt Mark eine routinierte Choreografie, die auf Außenstehende einigermaßen ulkig wirken dürfte: In rhythmischen Schritten dreht er einen Kreis rund um das Gerät. Dann trägt er die Kamera weiter und wiederholt die Prozedur. Das Gerät filmt in drei Richtungen gleichzeitig und rotiert in 90-Grad-Schritten einmal um die eigene Achse. Mark muss dieser Bewegung im toten Winkel der Kamera folgen, um nicht im Bild zu sein. Anschließend prüft er den Datentransfer auf dem Tablet, mit dem er diesen Prozess steuert. „Wenn du das den ganzen Tag machst, haste ‘nen Drehwurm“, sagt Thomas amüsiert.

Tatsächlich, sagt Mark, würde er regelmäßig von Passanten auf diesen ungewöhnlichen Prozess angesprochen. Thomas nickt. „Einmal hatten wir den Auftrag von einer Kommune, verschiedene Friedhöfe aufzuzeichnen. Als Serviceleistung für Personen, die eine Grabstätte pachten wollen. Bei der Gelegenheit wurden wir gefragt, ob wir Geister suchen.“

Vielseitige Informationswelten

Es ist erstaunlich, wie schnell die Kamera arbeitet. Eine Scan-Runde dauert nur wenige Sekunden. Mit vielen Gebäuden sei man schon nach einem halben Arbeitstag fertig. Gehostet werden die Daten auf einem amerikanischen Server des Herstellers. Für Fälle, in denen ein Datenhosting im Ausland nicht erlaubt ist, gibt es alternativ die Möglichkeit, 360-Grad-Rundgänge mithilfe einer konventionellen Panoramakamera aufzunehmen, deren Bilder in Deutschland gehostet werden.

Die 3D-Scans können in der weiteren Verarbeitung mit zusätzlichen Informationen, Sounds, Wegmarken und anderen Inhalten bestückt werden. Das soll auch mit dem Kauber Schieferrundgang passieren. „Hier gibt es ja tolle historische Bilder und bereits aufgearbeitete Informationen, die können wir an passenden Stellen ins Modell einbauen“, erklärt Thomas. „Du kannst im Prinzip alle multimedialen Dateien einpflegen. Bei der Liebfrauenkirche haben wir zum Beispiel mit Glockengeläut und Orgelklängen gearbeitet. Es ist aber auch möglich, das Ganze mit Karten zu verknüpfen oder mit Bildbearbeitung zu arbeiten, um andere historische Zustände des jeweiligen Ortes zu zeigen.“

Die zwei Männer haben sich von der Adolfstraße bis auf das Werksgelände des einstigen Schieferbaubetriebs vorgearbeitet. Thomas blickt an der verwitterten Fassade des Erbstollens hinauf, dessen Namen ein elegantes, aber verrostetes Metallschild über dem Eingang verrät. „Hier sieht man dann schon noch Teile von der Pracht, die das Ganze auch mal hatte. Es war wunderschön“, sagt Thomas. Im Inneren des Backsteinbaus liegt alles voll mit Gerümpel, als hätte man nach der Entkernung in den 80er Jahren einfach alles hier liegen lassen. „Ich finde das mega spannend, auch so, wie es jetzt ist. Nach oben kann man hier nicht mehr, weil keine Zwischendecke drin ist. Aber da, wo man laufen kann, versuchen wir, mit der Kamera hinzukommen.“

Am liebsten wolle er alle historischen Stätten der Region scannen, sagt Thomas. Falls in nächster Zeit also häufiger kreisende Menschen in Warnweste gesichtet werden, bedeutet das, dass sein Wunsch erhört wurde und gerade ein weiteres kulturhistorisches Unicum einen barrierefreien Zwilling bekommt…

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