Von Heilkräften und Giftigkeit, von erfolgreicher Migration und von mehr oder weniger kooperativen Wohngemeinschaften.
Ich bin durchgeschwitzt und staubig, als ich durch das Tor der Burg Sooneck trete und langsam in Richtung meines Zimmers stapfe. Eigentlich wollte ich nur ein bisschen was über Tiere wissen. Bekommen habe ich eine fünfstündige Wanderung über Stock und Stein, die retrospektiv betrachtet eine meiner interessantesten Erfahrungen hier am Mittelrhein sein würde. Auch deshalb erscheint dieser Text erst fünf Monate später – ich hatte viel, viel zu transkribieren.
Aber der Reihe nach. Es ist der bisher heißeste Tag des Jahres, ein Donnerstag im Juli, und ich habe mich mit dem Diplom-Biologen Thomas Merz verabredet, der mir als Ansprechpartner für die Flora und Fauna des Mittelrheins empfohlen wurde.
Als ich Thomas Merz am Telefon von meiner Idee erzähle, zwei leicht verdauliche, unterhaltsame Beiträge über die tierischen Bewohner und Anwohner des Rheins im BUGA-Gebiet zu schreiben, merke ich schon, dass er kein Fan ist. Von der Idee, die Mittelrheinnatur zu beleuchten schon. Aber nicht davon, es so dilettantisch zu machen, wie ich es mir gedacht habe. Das sagt er mir natürlich nicht so, dafür ist Thomas Merz viel zu freundlich und geduldig.
Statt mich zu rüffeln, macht er mir einen Vorschlag. Er wolle mir was zeigen. Einen Rundgang an der Loreley. Ob ich gut zu Fuß sei, will er wissen. Und ob Pflanzen für mich auch interessant wären. Ich sage ja – und sehe mich zwei Wochen später in Wanderschuhen auf dem Parkplatz der Burg Sooneck stehen.
Thomas sammelt mich mit dem Firmenwagen, einem praktischen Dacia Duster, ein, auf dem ein Logo in Blattform und der Name „viriditas“ schon vorausschicken, dass der Fahrer sich mit Natur befasst. Tatsächlich wird sich Thomas als wandelnder Botanik-Atlas und obendrein unheimlich firm in Regionalgeschichte herausstellen. Sein Wissen hat er bereits verschriftlicht, in einem Buch namens „Naturparadies Mittelrheintal“.
Mein Naturführer lugt gut gelaunt durchs Beifahrerfenster. Er hat freundliche braune Augen, einen in alle Himmelsrichtungen abstehenden Mecki-Haarschnitt und einen dazu passenden Schnauzer, hinter dem sein ganzer Mund verschwindet.
Auf der Fahrt legt Thomas gleich los. Er habe eine Lieblingsstrecke, da könne er mir unheimlich viel zeigen. Er selbst lebt in Weiler bei Bingen, und wenn man ihn erzählen hört, bekommt man fast den Eindruck, dass er seinen Wohnort wegen der dortigen Naturvielfalt gewählt hat. „Das Bundesamt für Naturschutz hat rund 30 Hotspots der Biodiversität in Deutschland deklariert. Und bei Bingen stoßen drei zusammen. Das Mittelrheintal, das Nahetal und die Oberrheinebene“, erklärt er, während er in St. Goarshausen gemütlich das Auto einparkt. „Ich behaupte: Wenn du auf den Kaiser-Friedrich-Turm hochgehst, kannst du mehr Naturräume sehen als von jedem anderen Punkt in Deutschland außerhalb der Alpen.“
Artenparadies Mittelrhein
Mittelrheintal, Nahetal und die nördliche Oberrheinebene, so lerne ich, haben alle eine ganz eigene und artenreiche Flora und Fauna. „Das Welterbegebiet im Mittelrheintal nimmt nur ungefähr 0,17 Prozent der Fläche der Bundesrepublik ein, beherbergt aber mehr als ein Drittel aller Pflanzenarten in Deutschland“, sagt Thomas. Die erste von vielen beeindruckenden Zahlen, die ich an diesem Tag lerne.
Die besondere Artenvielfalt hier an der Loreley komme von der topografischen Vielfalt, die rund um den berühmten Felsen zu finden ist: große Höhenunterschiede innerhalb von wenigen Kilometern Luftlinie, stark eingeschnittene Seitentäler mit feuchten, aber auch sonnenseitige felsig-trockene Lebensräume vermischen sich zu einem einzigartigen Flickenteppich der Ökosysteme. „Allein auf der Tour, die wir heute laufen, könntest du dir 350 bis 400 Pflanzen aufschreiben, das ist ungefähr ein Zehntel aller Pflanzenarten, die es in Deutschland gibt.“
Die Reise der Pflanzen
Pflanzen, um die wird es heute gehen. Und während ich mich zu Beginn der Tour noch frage, ob es nicht ein Versäumnis ist, sich „nur“ mit der Flora dieser Umgebung zu befassen, werde ich an ihrem Ende eines Besseren belehrt sein.
Während wir zu einem Bahndurchgang schlendern, erklärt Thomas, dass das Mittelrheintal eine jahrtausendelange Pflanzenmigration erlebt hat. „Es gab nach der letzten Eiszeit, vor etwa 7.000 Jahren, eine Wärmephase, wo es noch wärmer war als jetzt. In der Zeit sind Pflanzen aus Mittelmeerregion zu uns eingewandert, die hier ihre nördliche Verbreitungsgrenze erreichen. Andere Arten sind aus den Steppengebieten Südosteuropas eingewandert und finden hier ihre westliche Verbreitungsgrenze. Manche ihre nördliche. Das Zusammentreffen all dieser Arten gibt es nur bei uns.“
Manche Pflanzen wurden aber auch von Menschen an den Mittelrhein transportiert. Zum Beispiel von den Römern, wie das Mauerglaskraut, eine Verwandte der Brennnessel, die mir Thomas zeigt. Ich lerne, dass die Pflanze in ihren Blättern Kristalle enthält, die man in der Antike zum Reinigen nutzte. „Sie haben die Pflanze dafür verbrannt. Die Kristalle werden im Feuer nicht zerstört, sodass man die übrigbleibende Asche als Scheuermittel verwenden kann.“
Andere Pflanzen sind während der Renaissance in die Region gelangt – zum Beispiel das Zimbelkraut, das an Felsen und Mauern wächst und sich auf die Bestäubung durch kleine Wildbienen spezialisiert hat. Seine Samen legt das Kraut direkt in Gesteinsspalten ab, wo sie von Ameisen weitertransportiert werden.
Gestreift, getupft, gekringelt – Die vielseitige Farn-Familie
Thomas führt mich einen ziemlich schmalen Weg bergauf. Ein alter Eselpfad, nicht unbedingt etwas für Höhenängstliche. Auf unserer nächsten Etappe begegnen wir einer ganzen Reihe Farne. Wenn man die Mittelrhein-Flora auf spezielle Pflanzen herunterbrechen wollte, würden Farne sicherlich auf der Top-10-Liste landen.
Der Schriftfarn oder Milzfarn, der so heißt, weil man ihn im Mittelalter zur Behandlung von Milzleiden eingesetzt hat, kann wie die Rose von Jericho vollständig austrocknen. „Er ist dann nur noch eine kleine braune Kugel. Wenn es regnet, dauert es eine Stunde, und der Farn ist wieder grün. Steht auf der roten Liste als stark gefährdet“, sagt Thomas. „Hier haben wir noch einen besonderen Farn, den Tüpfelfarn – auch Engelssüß genannt. Das ist die einzige heimische Pflanzenart, die süßschmeckende Zucker speichert. Damit haben die Menschen früher gesüßt. Die Pflanze ist allerdings auch giftig.“
Die Dosis und so. Generell gibt es viele Pflanzen hier, denen medizinische Kräfte zugeschrieben werden oder wurden.
Die Dosis macht das Gift – Heilpflanzen und solche, die es mal waren
Thomas erklärt, dass man in der Signaturenlehre nach Paracelsus von der Form einer Pflanze auf deren mögliche Wirkung schloss – daher auch der Name Milzfarn. Neben der Signaturenlehre gab es im Mittelalter noch einen anderen populären Heilansatz:
Das Simile-Prinzip empfahl, Gleiches mit Gleichem zu bekämpfen. Beispielhaft weist Thomas auf den Aronstab hin. „Der Aronstab ist eine Giftpflanze, die gegen Vergiftungen angewendet wurde. Zum Teil sogar durchaus erfolgreich, weil sie zum Erbrechen führt. Aber da sind die Grenzen zwischen noch gut und gibst ihm den Rest auch fließend.“
Wir wandern vorbei an silbrigem Wermut, dessen Qualitäten schon Hildegard von Bingen in ihrer Physica beschrieb und der im 19. Jahrhundert verstärkt für Würzweine eingesetzt wurde. An Sichelblättrigem Hasenohr, einem Doldenblütler, von dem ich lerne, dass er aus derselben Familie wie Karotte, Wilde Möhre, Sellerie und Fenchel stammt. Und an wildem Majoran, der hier in der Gegend wirklich überall wächst (ebenfalls so ein Top-10-Kanditat), essbar ist und herrlich duftet. „Der Duft wirkt belebend“, erklärt Thomas, „Das ist gut auf Wanderungen, wenn man erschöpft ist.“
Ich nehme heimlich eine Nase.
Die Sonne brät unbarmherzig vom Himmel herunter und in meiner Wasserflasche schwappt nur ein kläglicher Rest umher. Gute Vorbereitung sieht anders aus. Ein Glück, dass hier so viele Büsche und Bäume stehen, die Schatten spenden. Wir nähern uns einem Wald. Diesen Wegabschnitt hat Thomas extra am Vortag von Brombeerranken freigeschnitten. Es nutzen nicht genug Leute diesen versteckten Pfad, dass er freibleiben würde.
Verwaiste Nutzwälder
Wie ein Großteil des Mittelrhein-Waldes ist auch dieser ein ehemaliger Niederwald. Die Rinde der Eichen wurde viele Jahrhunderte lang zur Gewinnung von Gerbstoffen genutzt und der Stamm nach einigen Jahren zu Brennholz verarbeitet. Aus dem überbleibenden Wurzelstock wuchsen dann neue Stämme.
Hier erfahre ich zum ersten Mal, dass es nicht immer die beste Idee ist, Natur einfach in Ruhe zu lassen. Sobald eine Landschaft menschengemacht und an bestimmte Bewirtschaftungsformen gewöhnt ist wie diese Niederwälder, bedeutet ein Ausbleiben dieser Nutzung schlimmstenfalls eine Überforderung für die domestizierte Natur. Für die alten Wurzeln der Niederwaldbäume, die nur auf eine temporäre Versorgung recht junger Stämme eingestellt waren, bedeutet ein ungehindert wachsender Stamm mit zunehmendem Wasserbedarf eine enorme Auszehrung. Auf die folgt das Absterben der Bäume, das man derzeit vermehrt am Mittelrhein beobachten kann.
Von guten Nachbarn und Mietnomaden
Wo wir gerade bei Abhängigkeitsverhältnissen sind, möchte ich etwas über symbiotische und parasitäre Verhältnisse wissen. Welche Pflanze kann mit welcher? Und welches Kraut wächst nur, weil ein anderes es mitversorgt?
Da gebe es einiges, sagt Thomas. Auch sogenannte Zeigerpflanzen, deren Vorkommen direkt auf andere Arten hindeutet, könne man hier sehen. „Man kann wirklich aus Pflanzen wie aus einem Bilderbuch lesen. Es gibt eine ganze Reihe von Arten im Mittelrheintal, die parasitisch leben und wirtsspezifisch sind, also alle nur auf einer bestimmten Pflanzenart oder einer bestimmten Verwandtschaftsgruppe schmarotzen. Das da zum Beispiel ist die Efeu-Sommerwurz, die parasitiert auf Efeu. Die betreibt selbst keine Photosynthese mehr. Deshalb ist sie auch so braun“, beschreibt er und deutet auf ein recht unansehnliches Gewächs, das in etwa aussieht wie eine schmale vertrocknete Hyazinthe.
Eine weitere Pflanze, die man im Mittelrheintal ähnlich oft antrifft wie Farne und wilden Majoran ist die Kronwicke. Ein Klimagewinner, wie Thomas sagt. Und eine Attraktion für Hummeln und Schmetterlinge. Geht es der Kronwicke gut, überwuchert sie schnell ihre gesamte Umgebung. Wicken und sogar Orchideenarten wie das Purpurknabenkraut findet man in der Region vermehrt auf Magerwiesen, aber auch auf brach gefallenen Weinbergen, wo sie sich mit Natternkopf und Nickender Distel die Klinke in die Hand geben.
Kurz vor der Felsenkanzel, an der „meist fotografierten Bank am Mittelrhein“, bleiben wir noch einmal kurz stehen und Thomas macht mich auf einen Baum aufmerksam, der dort weit über den Abgrund hinausragend aus dem Hang wächst: „Dieser Baum hier ist der Französische Ahorn oder Felsenahorn. Den gibt es in Deutschland fast nur hier am Mittelrhein. Er wird auch Burgenahorn genannt, weil er immer rund um die Burgen wächst.“ Anders als viele andere Laubbäume der Region kommt der Burgenahorn gut mit sehr trockenen Verhältnissen zurecht.
Generell ist es erstaunlich, wie unterschiedlich die ökologischen Nischen ausfallen, die sich die Pflanzen aussuchen. Fachfremden kommen diese bisweilen unlogisch vor. Konkurrenzschwache Arten zum Beispiel, die sich von anderen Pflanzen leicht unterbuttern lassen, sind häufig Spezialisten für unwirtliche Lebensräume, wachsen etwa an Straßen oder Mauern. Dort sind sie weniger verdrängungsgefährdet. „Schwach“ ist also auch in der floralen Welt ein relativer Begriff.
Vom großen Gärtner con amore…
Im letzten Drittel unserer Wanderung begegnet uns eines der schönsten Panoramen, die ich während meines ganzen sechsmonatigen Aufenthalts hier erblicken darf. „Ja, genieß erstmal die Aussicht, bevor ich weitererzähle. Heinrich von Kleist hat 1801 über den Mittelrhein geschrieben: ‚…der schönste Landstrich von Deutschland, an welchem unser großer Gärtner sichtbar con amore gearbeitet hat“, sagt Thomas augenzwinkernd und lässt mich ein wenig gucken.
Von diesem Punkt aus kann man gut erkennen, wie kraftvoll der Rhein rund um die Loreley fließt, wie er strudelt und wie die großen Containerschiffe um den Felsen herumdriften.
Wie Thomas zu den Pflanzen kam
Wir ziehen weiter durch stuppige, hohe Wiesen. „Hier gibt es noch ein paar schöne Arten. Das hier ist das Betonienkraut, das Hildegard von Bingen gegen Dummheit und Unwissenheit empfiehlt“, sagt Thomas vergnügt und deutet auf eine hübsche violette Blüte.
Wer mit Thomas wandert, erlebt einen Menschen in seinem Element. Dabei war die Pflanzenkunde keine Liebe auf den ersten Blick. Sein Biologiestudium in Mainz fängt er an, weil er mit Tieren arbeiten möchte. „Weil Pflanzen sind ja doof. Die stehen immer nur da rum, können nicht laufen, nicht fliegen, nicht schwimmen. Beim Studium standen dann drei botanische Pflichtexkursionen mit Bestimmungsübungen an.“ Und die dritte Exkursion habe alles auf den Kopf gestellt.
Der Dozent schaut sich mit den Studierenden Pflanzen in unmittelbarer Nähe der Hochschule an und fragt: „Warum wächst diese Pflanze genau hier und nicht woanders? Diese Frage hat mich nie wieder losgelassen. Ab dem Moment habe ich meine ganze Energie darauf gerichtet, Pflanzen kennenzulernen. Ich habe dann Geografie, Geologie als Nebenfächer gewählt. Denn wenn man Vegetation verstehen will, muss man Landschaft und Boden verstehen“, erzählt Thomas.
Von Mainz aus geht er nach Marburg und studiert mit Schwerpunkt Vegetationskunde weiter. Er spezialisiert sich auf Pflanzensoziologie, also Lebensgemeinschaften von Pflanzen, über die er mir heute schon so viel berichtet hat.
Ein Paradies mit hundert Gesichtern
Durch einen weiteren Waldabschnitt führt er mich über einen alten Lotsenweg hangabwärts Richtung Straße. „Hier rechts“ sagt Thomas, geht’s zu so einem kleinen versteckten Weinberg. Ich frage mich, wer den bewirtschaftet. Da kommt man glaube ich nur zu Fuß hin.“ Ich vermerke innerlich, dass ich diesem Weinberg noch nachspüren will – aber das ist eine andere Geschichte.
Als wir am Auto ankommen, rauscht mein Kopf nur so vor neuen Informationen – es fühlt sich an, als hätte man zwei Wochen Schulunterricht auf zehnfacher Geschwindigkeit durch mein Hirn gepumpt.
Eine wichtige Erkenntnis, die ich aus diesem Rundgang ziehe, ist, dass es manchmal zu schade ist, Dinge herunterzubrechen, passend machen zu wollen. Thomas Merz hat mir mit seiner Tour gezeigt, wie absurd der Gedanke ist, einen „kleinen Überblick“ der Tiere und Pflanzen im Mittelrheintal erstellen zu wollen, weil die Artenvielfalt hier keinen kleinen Überblick zulässt, ohne sie zu verkennen.
Deshalb ist dieser Beitrag keine Top-10-Liste, sondern eine gekürzte Kopie der Reise, die ich mit Thomas unternommen habe. Und ich habe versucht, dabei die naturbezogenen Informationen herauszuarbeiten, die einen möglichst umfänglichen Überblick über die Themen der hiesigen Natur und Kulturlandschaft geben. Ankerpunkte sozusagen für eigenes Weiterforschen meiner Leserschaft. Ich hoffe, dass sich dadurch ein bisschen von der Faszination, dem Interesse und der Demut, die diese wunderschöne Natur in mir ausgelöst hat, auf andere überträgt.
Es ist gut, dass es Menschen wie Thomas gibt, die diese Natur kennen, die sie bewahren möchten und die verstanden haben, dass man sie dafür anderen Menschen erklären muss.