4 Monate am Mittelrhein – Was ich gelernt habe

Zwei Drittel meiner Zeit im Welterbe sind vorüber, und es wird nicht langweilig. Immer neue Eindrücke, Informationen und Verknüpfungen tun sich auf. Nachdem ich viel Positives über die Region geschrieben und mich meinen Erkundungsgängen immer mit einem wohlwollenden Auge gewidmet habe, möchte ich in dieser Rückschau (neben weiteren schönen Erkenntnissen) auch ein paar Dinge ansprechen, die mich weniger begeistert haben.

Vermutlich renne ich mit den folgenden Beobachtungen einige offene Türen ein.

  1. Weinlesen ist für Büromenschen wie Meditation
    Die Stunden, die ich in den Weinbergen verbringen durfte, waren eine unheimlich bereichernde Erfahrung. Erkennen zu lernen, was „guter“ und was „böser“ Pilz ist, zu schmecken, wie sich Essigtrauben von guten unterscheiden, sich zu trauen, mal eine pelzig-violette Botrytisbeere zu probieren, die Trauben zu schneiden, prüfen und selektieren und sich mit vom Saft klebrigen Fingern die Haare aus dem Gesicht zu wischen, in dem Wissen, dass aus diesen Arbeitsstunden ein köstliches Getränk entsteht – das ist toll. Für Menschen wie mich, die jeden Tag locker acht Stunden vor dem Bildschirm verbringen, fühlt sich diese Arbeit an wie eine sanfte Hirnmassage. Positiver Nebeneffekt: Wenn jemand anruft, kann man nicht rangehen: die Finger kleben zu sehr. Das Lesen verstärkt auch die Wertschätzung gegenüber dem Produkt. Es hinterlässt seine Spuren in Form von Kratzern und Muskelkater. Es bringt einen mit unheimlich freundlichen, geselligen Menschen zusammen. Es lässt einen die Hingabe spüren, die der Winzerberuf braucht, und es lässt einen die Natur der Region noch einmal ganz anders wahrnehmen.
  2. Neugier lohnt sich (ist aber auch nötig)
    Wer mit mehr als 100.000 Menschen eine Telefonvorwahl teilt, ist in der Regel freizeitgestalterisch verwöhnt. Das ist ein bisschen wie mit dem vollen Kleiderschrank. „Ich hab nichts zum anziehen“, sagt die Überforderung mit dem Überangebot. Genauso kann es Großstadtbewohner*innen passieren, dass sie vor lauter Möglichkeiten auf nichts mehr Lust haben. Am Ende des Tages ist zieht es dann doch in die Stamm-Kneipe. Gleichzeitig wird man wählerisch. Jederzeit alles machen können, sich einfach vom nächsten knalligen Insta-Post, vom nächsten verheißungsvoll erleuchteten Ladenfenster anlocken zu lassen, hat was, stumpft aber auch ab. Umso spannender ist es, wenn nichts „Hier“ schreit – und dadurch alles potenziell interessant oder uninteressant sein könnte. In dieser ungewohnten Umgebung habe ich schon viele schöne kleine Erinnerungen gesammelt. Hier ein Stück Geschichte, da ein richtig guter Salat, dort ein bereicherndes Gespräch, da ein zauberhaftes Panorama. Und auch die ein oder andere Enttäuschung tut gut. Man muss nicht alles toll finden, was man erlebt. Es aber überhaupt zu erleben, hinterlässt in jedem Fall Nahrung fürs Hirn. Nichtsdestotrotz greift für mich der folgende Punkt:
  3. Das Mittelrheintal hat ein Werbeproblem
    Nicht jeder wird – wie ich gerade – dafür bezahlt, sich über viele Monate hinweg diese Region zu erschließen, im schlimmsten Fall eben auch mal einen halben Tag mit Googlerei zu verbringen, ehe es losgeht mit Ausflügen und Besichtigungen. Oder gar dafür, eine Anfahrt auf sich zu nehmen, um dann festzustellen: Ist nicht so das Wahre. Der Flickenteppich an Informationen, auf den man hier trifft, ist bisweilen etwas lästig. Google hilft da natürlich, plant man allerdings einen Tagestrip, muss man alles auf Dutzenden Einzelseiten nachschauen, die oft nicht sonderlich nutzerfreundlich sind. Und auf gut Glück einen Ort besuchen zu wollen, ist nicht die beste Idee. Selbst Burg Stolzenfels als eines der Highlights der Region, hat nur vier Tage die Woche auf. Hinzu kommt, dass die in Google auffindbaren Öffnungszeiten oft nicht stimmen. Ich habe schon vor verschlossenen Café-, Restaurant- und Museumstüren gestanden, obwohl sie hätten offenstehen sollen. Das ist ok in meiner Situation, für Leute, die vielleicht wenige freie Tage in der Region verbringen möchten, wertvolle Zeit, die verloren geht. Eine halbwegs übergreifende Lösung für die Suche nach Events bietet der Romantische Rhein – zu nutzen scheint diesen Kalender aber die Minderheit der Veranstalter, und die Filteroptionen für Nutzer*innen sind dürftig. Ich würde mir mehr klare Botschaften und besser auffindbare, gebündelte Informationen wünschen. Vieles wirkt noch sehr altbacken – dabei ist es heutzutage kein Hexenwerk mehr, qualitative Informationsmedien und -Kanäle herzustellen.
  4. Das Mittelrheintal schöpft sein Potenzial nicht aus
    Es gibt hier verdammt viel, was man nicht nur für Besucher*innen, sondern auch für die Anwohnenden gewinnbringend inszenieren könnte. Und ich glaube, dass das oft mit wenig Aufwand möglich wäre. „Es müsste mal einer…“, höre ich hier oft. Dabei hat so gut wie jeder die Option, öffentlich zugängliche Fördermittel zu nutzen, um vom „Es müsste mal“ zum „Ich mache jetzt“ zu kommen. Was ich auch höre: Die Kommunen unterstützen uns nicht. Ich frage mich, woran das liegt. Ist kein Geld da? Keine Lust? Genug „Anker“ für kreative, kulturelle, gastronomische und stadtentwicklerische Projekte gibt es allemal: Die Region ist ein Flickenteppich aus USPs. Viele Örtlichkeiten haben historische Hintergründe, die bereits angekratzt aber längst nicht so niederschwellig und unterhaltsam verarbeitet werden, wie es möglich wäre. Warum zum Beispiel wird in St. Goar die Geschichte der Lotsen nicht viel mehr ausgespielt? Das ist ein unheimlich interessantes Thema. Gerade in der Spiegelbildlichkeit mit dem Nachbarn gegenüber, St. Goarshausen, wo die Loreley-Thematik (Stichwort sinkene Schiffe) bedient wird. Es gibt ja sogar ein Schissergässchen, das an jene Zeiten erinnert, als die Schiffe noch an dieser gefährlichen Passage gelotst wurden – aber warum muss ich erst einen SWR-Beitrag gucken, um herauszufinden, was es damit auf sich hat?
    Bacharach wiederum hat das Zeug zum literatischen Zentrum – sei es mit einem Literaturcafé, Autorenresidenzen oder Ähnlichem. Immerhin ist dieser Ort geprägt von Heine, Hugo und Brentano. Die Statuen am Rhein sind schön und gut. Eine Motivation und ein Angebot, sich mit der Poesie des Mittelrheins auseinanderzusetzen, liefern sie allerdings nicht.
    Zeigt doch, was ihr habt! Macht es euch zu eigen. Dadurch würde vielleicht auch mal die gähnende Leere hinter diversen Schaufenstern verschwinden…
  5. Mancherorts hat der Mittelrhein noch mit seiner Vergangenheit aufzuräumen
    Ich habe schon in meinem Beitrag „Tagestrip durch Oberwesel“ angemerkt, dass ich nicht ganz verstehe, warum ein antisemitisch instrumentalisierter Jüngling, der längst nicht mehr zu den „offiziellen“ Heiligen der katholischen Kirche gehört (sein Name wurde 1963 aus den Heiligenverzeichnis des Bistums Trier entfernt), noch öffentlich als Weinpatron inszeniert wird, während Informationen über die wahre Geschichte hinter dem Wernerkult (besonders in seiner Entstehungsstadt Oberwesel) weitgehend fehlen. Ebenso wie sonstige aufarbeitende und einordnende Informationsmedien oder -veranstaltungen zum Thema Judenverfolgung. Der Faschist Hanns Maria Lux hat nicht nur das heute noch populäre Weinlied gedichtet, sondern mutmaßlich auch den Zauberspruch der Oberweseler Weinhex. Ob das sein muss…? Ich denke nicht. Vielleicht wäre es eine Idee, mal einen Deutschkurs darauf anzusetzen, sich einen neuen Spruch auszudenken…

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