Schwanengesang am Mäuseturm

Heute hatte ich einen Schreibflow und es war kein Wanderwetter, aber ich wollte am Nachmittag trotzdem nach Bingen, von wo ich eigentlich zur Burg hätte laufen wollen. Stattdessen nutze ich meinen zweiten Besuch in Bingen am Rhein für einen Stadtbummel. Es gibt wirklich neckische Läden und ein breites Angebot hier! Nur schließen einige Geschäfte oder sind schon geschlossen. Der Leerstand hat bestimmt nicht erst gestern die Runde gemacht. Inwieweit Corona eine Rolle spielt? Der Schlussverkauf freut unseren Kaufbeutel kurzfristig, aber was ist mit denen, die ihre Arbeit kurz vor der Rente verlieren? Wie eine Verkäuferin, der ich in einem Geschäft begegne, welches bald schließt. Erst vor einigen Monaten ist sie Witwe geworden, nun bald arbeitslos. Trotzdem gibt sie sich kämpferisch, hofft etwas anderes zu finden.

Und was wird aus dem Leerstand?

Nach dem Bummel zieht es mich ans Wasser. Nur – ich komme nicht hin. Die Schranke ist unten. Eine gute Gelegenheit mit einer anderen wartenden Frau ins Gespräch zu kommen. Sie ist aus Bingen, lebt aber schon seit Ende der 70er Jahre nicht mehr hier. Sie trifft sich mit Familie und Freunden, bleibt einige Tage. Das Warten an den Gleisen sei hier gang und gäbe, auch wenn kein Zug kommt. Bestimmt zwanzig Minuten stehen wir hier, sehen ein aufgemaltes Hakenkreuz auf der Schranke und beratschlagen, wie wir es verschwinden lassen.

Auch auf der anderen Seite warten Menschen. Sie kennen die Frau neben mir, so beginnt ein Gespräch über die Gleise. Ein ulkiger Anblick für mich, der hier im Oberen Mittelrheintal vielleicht an der Tagesordnung ist, denke ich mir. Die Gleise teilen die meisten Orte hier auf einschlägige Art und Weise, wie es mir noch nirgend sonst begegnet ist.

Irgendwann überqueren wir die Schienen und ich laufe Richtung Mäuseturm, setze mich ans Rhein-Nahe-Eck und blicke auf den Mäuseturm und die Burg Ehrenfels. Ein Mann schnitzt neben mir. Ich frage, was er schnitzt und erfahre so Einiges über fettes Holz von abgestorbenen Kiefern. Er beschreibt mir, wo es am besten zu finden ist. Wenn er im Büro an seinem Holzstück riecht, befinde er sich gleich im Wald, meint er. Wie schön, denke ich. Er zeigt mir auch noch Fotos auf seinem Handy z.B. von einem Biber und empfiehlt mir die Facebookgruppe „Beste Bingen Bilder“, die er einmal gegründet hat.

Ich laufe über die Brücke zum Mäuseturmpark, wo es sich gut fotografieren lassen soll, meinte Hans, der Schnitzer. Nasche eine Weintraube, durchstreife den Park und laufe weiter bis ans Rheinufer, wo mich einige Wildgänse anfauchen, weil ich an ihnen vorbei möchte.

Rückwärts zur Sonne gewandt laufe ich zurück zum Rhein-Nahe-Eck und sehe den goldenen Ball hinter dem Berg verschwinden. Eine Schwanenfamilie kommt angeschwommen, blickt erwartungsvoll zu uns Sitzenden. Aber sie bekommen nix, so suchen sie unter Wasser das Ufer nach Nahrung ab und werden von den letzten Sonnenstrahlen beschienen. Nach einer Weile schwimmen sie wieder von dannen.

Mein Magen ruft auch und ich erinnere mich an ein persisches Restaurant, an dem ich zuvor vorbei gelaufen bin. Ich finde es wieder, mache die Tür einen Spalt auf, aber es ist schon alles weggeräumt und bestimmt geschlossen, denke ich. Mache kehrt. Eine Frau mit weißen langen Haaren kommt aus dem Nebenraum, öffnet die Tür und fragt herzlich, was ich möchte. Mit einer warmen Falafel in der Tasche fahre ich zurück zur Burg, wo ich sie mir im Abendrot mit selbst gemachten Salat schmecken lasse. Der Gesang der Schwäne ist noch in meinem Ohr.

Der Schwan von Rainer Maria Rilke

Diese Mühsal, durch noch Ungetanes
Schwer und wie gebunden hinzugehn,
Gleicht dem ungeschaffnen Gang des Schwanes.

Und das Sterben, dieses Nichtmehrfassen
Jenes Grunds, auf dem wir täglich stehn,
Seinem ängstlichen Sich-Niederlassen -:

In die Wasser, die ihn sanft empfangen
Und die sich, wie glücklich und vergangen,
Unter ihm zurückziehn, Flut um Flut;
Während er unendlich still und sicher
Immer mündiger und königlicher
Und gelassener zu ziehn geruht.

*die Grundfassung ist am bereits am Mittwoch, 02.08., spontan für die Social Media Kanäle entstanden.

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