Eine Woche nach dem ersten Kennlerntreffen auf dem Loreley-Plateau fahre ich Richtung Urbar, stelle das Buga-Mobil im Örtchen ab und laufe nach Maria Ruh. Herzlich werde ich von Christoph und Jennifer Johann begrüßt. Die Mittdreißiger sind seit April 2022 die neuen Pächter der Gastronomie Loreleyblick sowie der Freilichtbühne Maria Ruh. Christoph Johann hatte seine Ausbildung zum Koch auf der Burg Rheinfels absolviert. Dort lernte er auch den Besitzer und früheren Betreiber der Gastronomie Gerd Ripp kennen, der bis 2019 auch das Romantik-Schlosshotel auf Burg Rheinfels betrieb. Gerd Ripp wollte sich zur Ruhe setzen und fragte seinen ehemaligen Lehrling, der mittlerweile seit 2016 den Kochtruck samt Panorama Dachterrasse in Osterspai betreibt, ob er nicht den Gastrobetrieb mit Blick auf die Loreley übernehmen wolle. Natürlich wollte er. Auch wenn das Paar wie so viele Gastronomen mit Personalmangel zu kämpfen hat, läuft es gut, meinen beide. Gerade das Frühstücksangebot ist meist über Wochen ausgebucht. In zwei Wochen werden die beiden ihre eigene Hochzeit im Garten nachfeiern. Wie praktisch, wenn einem selbst so eine einmalige Location gehört. Hochzeiten werden hier bei diesem Ausblick generell gern gefeiert. Auch in diesem Moment wird im hinteren Innenbereich für eine Hochzeitsgesellschaft eingedeckt.
Christoph Johann, den mein Seitenthema interessiert, erzählt mir noch von seinen Erfahrungen in Osterspai und Urbar. Die Infrastruktur sei rechtsrheinisch noch um Einiges hinterher, meint er. Gerade werde viel gebaut. Der Busfahrer einer gestrigen Reisegruppe habe erzählt, anderthalb Stunden vom Loreley-Plateau bis nach Maria Ruh gebraucht zu haben. Der Gastronom stellt in Frage, ob Reisegruppen diese Dauer weiterhin auf sich nehmen werden. Wir werden uns darüber nach dem Treffen noch weiter unterhalten.
Bevor es mit dem zweiten Kennlerntreffen los geht, laufe ich aber erstmal noch zum Ausblick, von wo ich das Plateau mit der winzigen Loreley-Statue sehe. Zurück auf der Terrasse setze ich mich auf eine Bank unter einen großen Schirm. Es ist wieder wechselhaftes Wetter, vielleicht 18 Grad, aber für das Sommergefühl möchte ich trotzdem draußen sitzen.
Pünktlich um 15 Uhr gesellt sich der Urbaer Ortsbürgermeister Heinz Link mit seiner Frau zu mir. Sie übergeben mir die Chronik von Urbar, welche 1996 anlässlich der 750 Jahrfeier herausgebracht wurde, denn 1246 ist Urbar offiziell das erste Mal erwähnt wurden. Gleich darauf kommt Thomas Biersch, Leiter der Touristik Hunsrück-Mittelrhein, von Emmelshausen aus angeradelt. Er hatte netterweise Heinz Link und auch den Wanderwegewart Jürgen Goedert, der später dazu stoßen wird, eingeladen.
Vor drei Jahren kam es zur Fusionierung von Hunsrück und Mittelrhein, auch ein Thema über das wir im Laufe des Nachmittags sprechen werden. Erstmal wird mir aber der Wanderweg Traumschleife Mittelrhein, der Maria Ruh streift, empfohlen. Dieser Weg hat sogar 93 Punkte erhalten und einmal mehr bekomme ich Lust loszustiefeln.
Aber jetzt gibt es erstmal Cappuccino und Thomas Biersch schmeißt ein Backblech Kirschkuchen. Wirklich der leckerste, den ich je gegessen habe. Schön saftig. Zu unserer Runde gesellt sich auch eine ältere Dame mit ihrer Tochter, die aus Damscheid angereist sind. Ursprünglich kommt die Dame mit pinker Jacke aber aus Niederheimbach und erzählt vom ehemaligen Märchenhain als Ausflugsmagnet und wie früher die Busse, sogar aus dem Ausland zu ihnen nach Niederheimbach kamen. Auch die Urbarer*innen erinnern sich. Sie möchte mich einmal auf der Burg besuchen und fragt, ob ich nicht auch solch eine Veranstaltung in Niederheimbach organisieren möchte?
Es ist eine gemütliche Runde und neben Kaffee und Kuchen gibt es so viel Gesprächsstoff und spannende Themen, dass es mir gar nicht so leicht fällt, schriftlich die Fäden zusammen zu bringen. Zwei Themen dominieren aber dann doch diese drei Stunden. Ich erfahre viel über die Gemeinde Urbar, aber auch über die Verwaltungsstrukturen. Zum Beispiel wusste ich nicht, dass alle Ortsbürgermeister*innen in Rheinland-Pfalz dieses umfangreiche Amt ehrenamtlich ausüben. Heinz Link hat das Amt 2019 auch eher aus der Not heraus übernommen, denn es fand sich erst keine Nachfolge und so wäre Urbar von der Verwaltung „zwangsregiert“ wurden. Das Bürgerhaus und das neue Baugebiet überzeugten Link außerdem, sich zu engagieren und seine Frau war auch einverstanden. Für die nächste Wahl, die bereits 2024 ansteht, wird er aber nicht wieder kandidieren und eine Nachfolge ist noch ungewiss. Wie auch bei einigen anderen der 33 Ortsbürgermeistern des Kreises, wirft Thomas Biersch ein. Auch wenn Heinz Link diese Entscheidung aus persönlichen Gründen getroffen hat, beschreibt er die großen bürokratischen Herausforderungen als Gemeinde selbst etwas gestalten zu können. Ich nehme mir vor, ihn zu all diesen relevanten Themen ein anderes Mal genauer zu befragen.
Es gibt aber auch viel Positives aus Urbar zu berichten. Es gebe keinen Leerstand im Ort und viele der jungen Leute würden wieder zurück kehren. Mir wird der Höhenort Urbar, zu dem auch 1 Kilometer Rhein gehört, als sehr lebendig beschrieben. So gibt es beispielsweise eine kleine Bücherei im Ort und im Sommer finden Vorleseabende statt, der sogenannte „Lesesommer“, wo sich getroffen und gemeinsam Literatur genossen wird. Im alten Backhaus backen Jugendliche fünf Mal im Jahr für die Gemeinde und beleben diesen Ort wieder. Im Gemeinschaftshaus mit barrierefreiem Zugang treffen sich verschiedene Vereine vom Sport- Turn- und Musikverein über die Frauengemeinschaft. Der „coolste Verein“ sei aber der „Kadalderer“, der eigene Karnevalsverein, zu dessen Namensfindung es eine handvoll Geschichten gäbe. Jedenfalls seien die Räume im Gemeinschaftshaus jeden Abend in Benutzung.
Mittlerweile haben sich noch zwei Herren zu uns gesetzt. Hans Egon Link, Bruder von Ortsbürgermeister Link und der bereits angekündigte Jürgen Goedert, der sich um die Wanderwege in der Gegend kümmert. Und wo eben der Musikverein erwähnt wurde: Beide spielen übrigens Horn, während Bürgermeister Heinz Link zur Tuba gewechselt ist. Apropos seit einem Jahr kooperiert der Urbaer Musikverein mit dem Oberweseler, da beide sonst kein Orchester in voller Besetzung mehr hätten. Besonders schön daran ist, dass sich jede Woche mit Ort und Zeit abgewechselt wird und so die Oberweseler Musikant*innen jede zweite Woche auch nach Urbar kommen. Das Verhältnis der beiden Gemeinden habe sich in den letzten Jahren auch wieder verbessert, erfahre ich. 1974 wurde Urbar nämlich nach Oberwesel eingemeindet, was nicht gerade für Begeisterung gesorgt habe. 1999 ist Urbar dann wieder selbstständig geworden, da bekommt die Fusionierung der Musikvereine gleich eine andere Bedeutung.
Die Stimmung am Tisch ist weiterhin munter und das Gespräch fließt dahin. Es wird über die Planung neuer Radwege gesprochen und auch über früher. Frau Link erinnert sich noch gut an das Schlachten der Wutz anlässlich des Geburtstags von Antonius dem Einsiedler, dem Heiligen von Urbar. Dafür wird auch immer noch das Traditionsessen „Nelgescher Schinken“ zubereitet und das Schweinefleisch in Gewürznelken und Gewürzsud gekocht. Ich komme kaum mit meinen Notizen hinterher. Auf einmal geht es richtig zur Sache. Bei welchem Thema? Natürlich der Brücke.
Ausgehend von der Neuigkeit, dass St. Goarshausen nun doch nicht bei Rhein in Flammen mitmacht, nimmt das Gespräch seinen Lauf. Heinz Link bezeichnet den Rhein gar als „Staatsgrenze“. Er und seine Frau, beide in Urbar geboren, fahren mindestens einmal im Jahr hinüber, um diese Grenze zu passieren. Frau Link erzählt von ihren Erfahrungen, als ihre Tochter noch in St. Goarshausen zur Schule ging. Es sei schwer gewesen den Kontakt zu den Eltern, die auf der anderen Seite lebten, zu halten. Bei Veranstaltungen und Treffen sei der Blick auf die Uhr und die damit verbundenen Fährzeiten behindernd gewesen. Sie erzählen mir auch von einem Soziologen, der feststellte: „Obwohl die Leute in Sichtweite wohnen, kennen sie sich nicht.“ Familie Link positioniert sich klar für einen Brückenbau, auch mit Blick auf die Wirtschaft und neue Unternehmen, die sich im Oberen Mittelrheintal ansiedeln könnten. „Die Mehrheit sei für eine Brücke.“, meint Heinz Link. Jürgen Goedert sieht das anders, plädiert dafür die Fähren zu subventionieren und gibt auch zu bedenken, dass es bereits seit Jahrzehnten Unternehmen gebe, die auf beiden Seiten Aufträge annehmen würden. Nach der hitzigen Diskussion hilft nur ein Glas Wein. Tatsächlich bekommen wir sogar noch ein Ständchen von Jürgen Goedert, der sein Horn mitgebracht hat und „Lasset uns das Leben genießen“ zum Besten gibt. „Lasset uns das Leben genießen, lasset uns recht fröhlich sein. Schöne Stunden, die verfließen, trinket aus, schenket ein.“
Der Frust ist verflogen und die Zeit auch. Die meisten verabschieden sich. Jürgen Goedert hat noch etwas mit mir vor und so schlendern wir gemeinsam mit den Brüdern Link zum Aussichtspunkt, wo er noch das Loreley-Lied zum Besten gibt. Wieder ein berührender Moment für mich, der dieses gemütliche Treffen wunderbar beendet. Als Zugabe führen mich Heinz und Hans Egon Link noch ein Stück weiter, zu einer Tafel, auf der an die Johann Traber Show von vor 20 Jahren erinnert wird. Johann Traber und sein Sohn hatten an dieser Stelle ein Stahlseil hinüber zum Loreley-Felsen gespannt und auf einem Motorrad 14 Salti gemacht. Die Bilder ploppen auch in meiner Erinnerung auf. Allein beim Gedanke an diese Artistik wird mir ganz anders.
Die Brüder verabschieden sich und wollen noch eine Runde laufen. Ich mache mich noch einmal zurück zum Restaurant, verabschiede mich von den Johanns und laufe noch einmal umher, bis ich auf einer Bank mit Blick auf Rhein und Abendhimmel die Gespräche setzen lasse.
Beide Treffen waren anders. Bei beiden durfte ich spannende Menschen aus dem Tal kennen lernen, die mir herzlich und interessiert begegneten. Von der jeweils anderen Seite ist niemand dabei gewesen. Da kommen mir die Worte von Christoph Johann in den Sinn, der am Ende noch zu mir meinte, dass es ihm manchmal so vor kommt, dass sich beide Seiten nicht gut bei Veranstaltungen absprechen und auch in der Zusammenarbeit der einzelnen Touristinfos noch Luft nach oben sei. Vielleicht ist es aber auch zu viel verlangt, die Reise über den Rhein samt Höhenaufstieg auf sich zu nehmen? Andererseits gibt es sie ja, die Menschen, die einfach machen, rüber fahren und das Obere Mittelrheintal als Ganzes genießen.