Land in Sicht – wie Julia Mantel Lorch poetisiert

Es ist Ende Oktober. Ich mache mich auf nach Lorch, genauer zur Villa Schöneck, um die Land in Sicht Stipendiatin des Hessischen Literaturrats Julia Mantel zu besuchen. Seit Mitte September lebt sie dort im ehemaligen Weingut Troitzsch-Pusinelli. Burg Sooneck liegt in Nebel gehüllt und so kann ich mein Ziel auf der anderen Seite, gar nicht sehen. Mein Verdacht, welches Haus die Villa Schöneck ist, bestätigt sich. Sie liegt Burg Sooneck quasi gegenüber. Im Lorcher Bächergrund angekommen ist von meiner Burg heute nix zu sehen.

Julia Mantel wartet bereits am Eingang auf mich. Es regnet und ist ungemütlich. Wir haben uns zum Frühstück verabredet und wollten danach gemeinsam spazieren gehen, aber das fällt wortwörtlich ins Wasser. Im ersten Stock angekommen, zeigt mir Julia ihre großräumige, gemütliche Wohnung mit Blick auf Weinreben, Toteninsel und Rhein. Sie erzählt, dass sie sich hier sehr wohl fühlt und auch viel mit ihren Gastgebern den Pusinellis im Austausch ist. Wir setzen uns in die Küche. Auf dem Tisch liegen die zwei letzten von Julias insgesamt vier Gedichtbänden und „Easy Magic 123“. Dieser Katalog mit Gemälden von Julia Jansen und Bettina Sellmann sowie Gedichten und Strickobjekten von Julia Mantel ist in der Coronazeit durch ein Stipendium entstanden. Ich brauche erstmal einen Kaffee zum Ankommen und platziere die Teilchen vom Bäcker auf einen Teller. Nach dem ersten Schluck Kaffee liest mir Julia eines ihrer zehn Lorch-Gedichte vor, die sie am Samstag, 18.11. 18 Uhr in ihrer Abschlusslesung im Hilchenhaus in Lorch am Rhein lesen wird. Es heißt „Platzhirsche und Röhrenjeans“ und ist inspiriert von ihrem Ausflug ins Wispertal, wo sie in Begleitung eines einheimischen Jägers die Hirschbrunft beobachtete. 

Während dem „Warten auf das wahre Röhren“, ist „das Röhren der Motorradfahrer zu hören“. Und schließlich „nach drei Stunden Warten“: Legen sich „alle ins Zeug, alles für die Girls“. Ihre Lyrik beschreibt lautmalerisch und mit herrlichem Humor, ist gut verständlich und gleichzeitig von Wortspielen geprägt, mehrdeutig und gesellschaftskritisch. „Weil es zu warm ist, kommen die Hirsche viel später zur Brunft heraus“, erzählt sie mir und beschreibt, wie sie selbst auch noch vor einer Woche, Mitte Oktober, im Hemd rumlaufen konnte. Der Klimawandel ist eines der Themen, mit denen sie sich auch hier in Lorch poetisch auseinandersetzt.

Bei der Abschlusslesung am 18.11. wird auch eine kostenlose Broschüre mit Fotografien und ihrer Lorch-Lyrik veröffentlicht. Aus ihren letzten beiden Gedichtbänden „Der Bäcker gibt mir das Brot auch so“ (2018) und „Wenn Du eigentlich denkst, die Karibik steht Dir zu“ (2021) wird Julia ebenfalls lesen. Zu diesem Band sind online auch kurze Videos von ihr zu finden, die sie mit der Kamerafrau und Dokumentarfilmerin Nina Werth 2021 umgesetzt hat.

Wespennest aus „Wenn du eigentlich denkst, die Karibik steht Dir zu“

Julia Mantel ist 1974 in Frankfurt am Main geboren. Sie hat zwar auch schon mehrere Jahre auf dem Land gelebt und in Lüneburg Angewandte Kulturwissenschaften studiert, aber schlussendlich lebt und arbeitet sie seit vielen Jahren in der Großstadt Frankfurt am Main. Daher interessiert mich besonders ihr Blick auf Lorch im Gegensatz zu Frankfurt. Sie beschreibt die „anders getaktete Zeit“ hier am Rhein, im Gegensatz zur Hektik der Stadt. Julia berichtet auch von sehr guten Gesprächen mit den Einheimischen und von den Nachbar*innen, die sie bereits grüßen. „Die Leute passen aufeinander auf“, machen sich „ähnliche Gedanken“ über die Herausforderungen der Migration oder die Digitalisierung wie die Großstädter. Die Stimmung insgesamt sei nur „weniger aggressiv“ und die Lyrikerin beschreibt die Menschen hier als angenehm „unhysterisch und gelassen“. In Frankfurt am Main seien die Auseinandersetzungen spürbarer: „Du bist beispielsweise am Hauptbahnhof direkt mit den Abgründen der Gesellschaft konfrontiert.“ Es komme regelrecht zu einer „Informationserschöpfung“, nicht nur, da so viele Menschen auf engem Raum zusammentreffen. Reichtum und Armut würden in der Großstadt auch nochmal anders aufeinanderprallen. Natürlich gäbe es auch in Lorch so einige „Shakespeare Dramen“, von denen ihr erzählt wurde, aber Julia Mantel empfindet es so, dass „die Natur den Schock abfedert“.

Sie geht hier viel spazieren, oft denselben Weg durch die Weinberge und nach Lorch, beobachtet viel. Sie war auch schonmal in Rüdesheim und Geisenheim, aber sonst sei sie „treu“ hier in Lorch unterwegs. Auf die andere Seite hat sie es noch nicht geschafft, dafür half sie gleich zu Beginn des Stipendiums bei der Weinlese mit, besuchte Straußenwirtschaften und einen türkischen Kochkurs bei Saynur im Weingut Mohr. Auf ihrem Instagram-Account berichtet sie mit Text und Bild davon. Mittlerweile hat sie auch einen Collagen-Workshop für die vierten Klassen der Grundschule in Lorch gegeben. Dieser war angelehnt an Herta Müllers Schnipsel-Lyrik. „Sprache ist so wichtig und Literatur eröffnet viele Horizonte, aber immer mehr Kinder haben gar kein Buch mehr zu Hause stehen. Jedes vierte Kind kann heute nach der Grundschule nicht mehr richtig lesen“, beschreibt sie den Anlass für das Schulprojekt. Sie wollte vor allem niederschwellig arbeiten, denn „ausschneiden kann jeder.“

Den Austausch zwischen Land und Stadt empfindet die Lyrikerin als zentral. Sie kann sich gut vorstellen, dass in Zukunft noch mehr Menschen aus größeren Städten wie Frankfurt einfach mal ein Wochenende im Rheingau verbringen werden, denn die Sehnsucht nach der Natur wächst weiter an. Selbst kennt sie die Gegend vor allem vom Wandern auf dem Rheinsteig. Es ist ihr erstes Aufenthaltsstipendium. Nach dem Auswahlverfahren der Jury des Hessischen Literaturrats, hatte Lorch und damit auch ihre Gastgeber quasi das letzte Wort und die Entscheidung fiel auf sie. 

Julia habe sich immer schon für Lyrik interessiert, vielleicht auch mal als Jugendliche ein paar Zeilen geschrieben, während des Studiums der Kulturwissenschaften habe sie dann mehr und mehr journalistisch gearbeitet. Der Zugang in die literarische Welt kam erst, nachdem sie das Studium abbrach und an einer Textwerkstatt mit Kurt Drawert teilnahm. Auf erste Lesungen, folgte immer mehr Vernetzung in der Literaturszene. 2005 gründete Julia Mantel das Konzeptlabel „Unvermittelbar“, zudem ist sie Gründungsmitglied des Frankfurter Lyrikkollektivs „Salon Fluchtentier“. „Von was ich lebe, ist mir letztendlich gar nicht so wichtig, Hauptsache ich bin autonom“, beschreibt sie ihren Zugang zum Leben. Neben dem Schreiben hat sie immer schon in ganz anderen Bereichen gearbeitet. In jungen Jahren modelte sie, am Anfang der Coronazeit verkaufte sie aber beispielsweise Spargel. Julia Mantel mag keine homogenen Blasen, sie möchte nicht nur über die Welt schreiben und diskutieren, sondern Teil dieser Welt sein, immer wieder aus ihrer Komfortzone treten und mit ihrer Lyrik Brücken bauen. Uns fallen auch eine Menge anderer Beispiele von Schriftsteller*innen ein, die ihren gelernten Beruf weiterhin ausgeübt haben wie Norbert Scheuer, der als Systemprogrammierer arbeitete oder Liedermacher Gerhard Gundermann, der trotz ausverkauften Konzerten seinem Braunkohlerevier als Baggerfahrer treu blieb. 

mein haus, mein auto, mein aus

mein haus, mein auto, mein aus.
nichts ist im lot.
wie schuppen von den haaren
fällt es mir auf die schulter
herunter:
nichts ist munter.
ich bin tot.
(ich war verheiratet.)
wer nimmt mich mit ins boot?

Ihre Lyrik verkaufe sich sehr gut, erzählt sie mir. Trotzdem könne von Lyrik allein sowieso kaum wer leben, bestätigt sie meine Annahme und wir sprechen weiter über die heutige Bedeutung von Lyrik. „Lyrik ist schnell gelesen, spendet Trost und passt in diese Zeit“, meint Julia und verweist auf die Verrohung unserer Sprache und wie Lyrik diese aushebeln kann. Eine Leserin meinte einmal anerkennend zu ihr: „Du guckst dahin, wo ich mich nicht traue, hinzugucken.“

arm greift, ein

arm
greift
ins leere

ab und zu
nicht

arm sein (wollen).
Flyer Abschlusslesung

Zur Lesung am kommenden Samstag wollen alle kommen, die sie in Lorch kennen gelernt hat. Das Interesse an ihrer Person im Ort ist groß und Julia ist sehr dankbar so herzlich aufgenommen worden zu sein. „Ich habe mich nie allein gefühlt!“

Nach einem kurzen Fotoshooting verabschieden wir uns: Julia hat einen Termin am Telefon und ich gehe nach draußen in den Garten. Es regnet und ist immer noch nebelig. Immerhin sind jetzt die Umrisse meiner Burg zu erkennen. Zurück auf Burg Sooneck schreibe ich Julia, dass wir uns bei klarer Sicht eigentlich winken könnten. „Können wir ja mal versuchen.“, erwidert sie.

Blick auf Burg Sooneck

WDR 3 bzw. der Klangkünstler Sebastian Meissner hat im vergangenen Jahr unter dem Titel „Krisenreime – Von Lyrik und Psychosen“ ein ausführliches Kulturfeature über Julia Mantel gemacht.

*“mein haus, mein auto, mein aus“ sowie „arm greift, ein“ aus Mantel, Julia: Wenn Du eigentlich denkst, die Karibik steht Dir zu“. Edition Faust. 2021.

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