Rüdesheimer Kaffee

Rüdesheimer Kaffee
Rüdesheimer Kaffee

Der deutsche Espresso Martini

Seit einigen Jahren mischt ein Drink beständig in der Hotlist der Barkultur mit, den viele als den “Wodka-Redbull für Erwachsene” bezeichnen: Der 1983 erfundene Espresso Martini sieht nicht nur schick aus, sondern verbindet praktischerweise die Effekte gleich zweier Suchtmittel: Er macht wach und betrunken. Weit weniger bekannt, aber mit dem gleichen Wirkgemisch kommt der Rüdesheimer Kaffee daher. Ein liebenswertes Mittelrhein-Original.

Im Weichholz-Vitrinenschrank meiner Mutter stehen seit immer schon so eigentümlich geformte Porzellantassen: Recht hoch, mit einem runden, bauchigen Bereich, der nach oben hin wie ein Trichter in die Breite geht, bemalt mit einem Muster in Altrosa. Benutzt wurden sie nie. Ich weiß noch, dass ich irgendwann um Weihnachten rum fragte: “Mama, was sind das eigentlich für Tassen?” – “Ach, die sind für Rüdesheimer Kaffee, das war mal Mode. Habe ich ewig nicht mehr gemacht. Müsste man mal wieder!” So habe ich an einem zweiten Weihnachtstag zum ersten Mal Rüdesheimer probiert. Und dabei direkt ein Sakrileg begangen, wie ich seit meinem Aufenthalt am Mittelrhein weiß: Ich habe die Sahne abgelöffelt.

Marketing geht durch den Magen:
Die Erfindung einer Delikatesse

Seit 1892 wird in Rüdesheim von der Destillerie Asbach der berühmte gleichnamige Weinbrand aus regionalen Weinen hergestellt, der seinerzeit als “Rüdesheimer Cognac” beworben wurde. In den Nachkriegsjahren ab 1950 setzte die Firma vermehrt auf Werbeinitiativen. Die Produktion hatte jahrelang stillgestanden, und nun galt es, das feine Weindestillat nach allen Regeln der Kunst zu vermarkten. Man setzte auf Fernsehwerbung (den Spruch “Wenn einem so viel Gutes widerfährt, das ist schon einen Asbach Uralt wert” kennen heute noch viele) und auf eine hauseigene Kaffeespezialität.

Die haben wir dem in den 50ern sehr populären Fernsehkoch Hans Karl Adam zu verdanken, der übrigens auch als Erfinder des Hawaii-Toasts gilt. Adam arbeitete damals viel mit Markenartikeln, auf die er spezielle Rezepte zuschnitt.

Nur die Schoki fehlt noch…

Der gemütlichen Kleinstadt Rüdesheim verpasste er ein ebenso gemütliches Getränk, das dem Weinbrand eine geschmackliche Bühne baut und ihn auch für weniger Spirituosenfreudige genießbar macht. Ich möchte diesem Getränk auf den Grund gehen, das es bis in unser Krefelder Wohnzimmer geschafft hat.

Das Originalrezept:
Der Aufbau eines Kaffeeklassikers

“Drei Stück Zucker, 4 Cl. Asbach, anzünden und rühren. Dann mit Kaffee löschen, sobald der Zucker sich aufgelöst hat, dann kommt ordentlich Sahne – und zu guter Letzt die Schoki.” Nina zelebriert das Kaffeeritual voller Hingabe. Als die beherzte Kellnerin im schwarzen Asbach-Shirt einem Kollegen vor wenigen Minuten laut “Licht!” zurief, dachte ich erst, eine Glühbirne sei kaputt.

Jetzt weiß ich: Im Art Café wird das Licht gedimmt, damit die Gäste besser die tanzende blaue Flamme in ihren Tassen beobachten können. Jeder einzelne Kaffee wird hier nach Originalrezept am Platz zubereitet. “Für uns ist das kein touristisches Produkt, wir vertreten das mit einem gewissen Stolz”, sagt Nina. “Asbach ist Rüdesheim.”

Der Weinbrand ist in der ehemaligen Bierkneipe mit roten Ledersitzen und kunstbehangenen Wänden allgegenwärtig. Ein regelrechter Asbach-Schrein begrüßt die Gäste gleich am Eingang. Die Rührlöffel klingeln, hier und da hört man ein andächtiges “Ooh!”.

Schaut man in die Gesichter der Gäste, die gebannt auf die sich füllenden Rüdesheimer-Tassen blicken, ist da eine fast kindliche Begeisterung zu beobachten.

Kelch, Tasse, Pokal?
Ein ikonisches Tassendesign

Die unverkennbaren weiß-roten Kaffee-Kelche wurden speziell für das neue Lokalrezept entwickelt. So ungewöhnlich sie auch aussehen mögen, spiegeln sie doch eine goldene Designregel: form follows function. Jeder Abschnitt der Tasse ist zum Abmessen einer der Zutaten gedacht.

“Die Tasse ist so gemacht, dass man kein Maß braucht. Dadurch, dass der Asbach im Bauch liegt, ist das Flambieren leichter. Die nächste Kante zeigt an, bis wo der Kaffee eingeschenkt wird, und dann öffnet sich die Tasse nach oben hin, damit eine ordentliche Portion Sahne draufpasst”, erklärt Nina, die die gesamte Biografie des Rüdesheimer Kaffees in- und auswendig kennt. “Die ersten Tassen wurden von der Villeroy & Boch-Tochter Heinrich Porzellan produziert, die ersten Löffel von WMF.”

Der Kaffeeknigge:
So trinkt man Rüdesheimer

Eine wichtige Regel gibt Nina ihren Gästen immer noch mit, ehe sie sie ihrem Genuss überlässt: “Der heiße Kaffee wird durch die kalte Sahne geschlürft.” So mischen sich die Zutaten zu einer köstlichen Gesamtkomposition, genau wie es sich Herr Adam seinerzeit überlegt hat.

Mit dieser Information bin ich direkt zu meiner Mutter gelaufen. Mir gefällt nämlich der Gedanke, nach dem Ende meines Mittelrhein-Aufenthalts im Dezember am zweiten Weihnachtstag mit einem Rüdesheimer anzustoßen, wenn ich meiner Familie von der wunderbaren Zeit hier erzähle. Denn auch, wenn er etwas altbacken daherkommen mag, ist der Rüdesheimer Kaffee ein Getränk, das einem warm ums Herz werden lässt.

Gemütlichkeit in Tassen, die eine Kostprobe definitiv wert ist!

PS:
Eine unverhoffte Entdeckung

Als ich diesen Artikel fertigschreibe, ist es Samstagvormittag. Eigentlich ist alles schon drin. Die Informationen, die mir wichtig sind, habe ich vor Tagen schon ergoogelt und aus dem Gespräch mit Nina extrahiert. Und dann tippe ich doch noch einmal Hans Karl Adam in die Suchmaschine ein. Wie sah der eigentlich aus?
Ein Foto ploppt auf. Moment. Den kenne ich doch!

Hans Karl Adam Vergleich

Ich habe vor Jahren ein altes Krefelder Fotoarchiv gekauft, mit hunderttausenden Motiven aus den 60ern bis frühen 2000ern, die ich noch nicht ansatzweise alle gesichtet habe. Die meisten sind nicht verschlagwortet, die vielen Gesichter, die Fotograf Rudolf Brass in seiner langen Fotografenkarriere festgehalten hat, für mich völlig anonym. Eines dieser Bilder hängt in meiner Küche: Es zeigt einen drolligen Mann mit Hornbrille, der mit genießerisch gespitzten Lippen im Begriff ist, an einer Kaffeetasse zu nippen. Bisher fand ich den einfach nur witzig. Jetzt weiß ich: Dieser Mann muss Hans Karl Adam sein. Ich hole das Bild aus dem Rahmen, schaue auf die Jahresangabe auf der Rückseite des Fotodrucks und prüfe den Digitalbestand.

Hans Karl Adam
Hans Karl Adam zaubert mit Dujardin, September 1969

Ich finde eine ganze Reihe. Adam, den ich anhand seines Schürzen-Aufdrucks jetzt zweifelsfrei identifizieren kann, auf einer Bühne, scheinbar ein Show-Kochen. Vor ihm steht, sehr prominent im Bild, eine Flasche. Natürlich! Auch meine Heimatstadt hat eine Weinbrennerei, deren Werbespruch heute noch alle Krefelder*innen auswendig kennen: Dujardin. Hans Karl Adam scheint also auch mit Dujardin mal irgendein Spezialgetränk zubereitet zu haben!

Gibt es einen “Krefelder Kaffee”, den keiner mehr kennt?
Eine neue Rechercheaufgabe.

Darauf einen Dujardin!


Ein Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert