Oberwesel lauscht, läuft und liest

Samstag, 24. Juni 2023. Es ist etwa 13.15 Uhr als ich den Parkplatz am Bahnhof verlasse und Richtung Liebfrauenkirche laufe. Eine andere Frau geht fast neben mir und ich frage nach, ob sie auch zu “Oberwesel liest” möchte. Sie bejaht sogleich und erzählt mir von ihrem letzten Besuch und wie sie das Format erfreut. Die Veranstaltung finde zum dritten Mal statt, erfahre ich.

Im Garten der Kirche, der schon gut gefüllt ist, stellen wir uns erstmal an, um unsere Karten zu zeigen, beziehungsweise in meinem Fall, meine Karte abzuholen. Ich habe netterweise noch eine von Monika Seckler, der Organisatorin erhalten – die Veranstaltung ist nämlich schon länger ausverkauft. Wir werden in vier Gruppen eingeteilt. Mir wird zur blauen Gruppe geraten, weil diese von Marcel D`Avis geführt werden wird, einem Oberweseler Original.

Es ist sommerlich heiß, die Sonne prasselt und die über 100 Teilnehmenden retten sich in den Schatten. Dort werden Wasserflaschen und Weingläser verteilt, die wir zu jeder Station mitnehmen sollen. Jeder Station? Ja, “Oberwesel liest” ist ein Literaturformat der bewegten Sorte. Es gibt fünf verschiedene Leseorte in Oberwesel, zu denen die jeweiligen Gruppen laufen und so auch noch besondere Orte in Oberwesel kennen lernen. Denn so einige Gäste leben nicht in Oberwesel und sind aus dem ganzen Oberen Mittelrheintal angereist.

Neu in diesem Jahr ist, dass sich alle Gruppen beim letzten Ort, der Liebfrauenkirche, treffen und der Raum für die letzte Lesung auch für Menschen ohne Ticket geöffnet wird. Nach den einführenden Worten von Monika Seckler geht es auch schon los.

Die blaue Gruppe schlendert zum KD-Häuschen am Rhein. Ich genieße den Blick und höre hinter mir eine lockere Unterhaltung über ein Erkennungsmerkmal von Oberweseler Menschen: die sagen “die Bach”.

“Treue” im KD-Häuschen

Der Ort überrascht mich: im Schatten des Häuschens stehen Stühle und Hocker um den geschmückten Lesetisch, auf dem der Roman von Hernan Diaz “Treue” steht. Christian Büning, der Vorleser, begrüßt uns freundlich. Zwei Frauen aus dem Team verteilen Wein und Käsespieße. Sehr liebevoll organisiert, schießt es mir sofort in den Kopf.

Christian Büning erzählt uns kurz etwas über das Buch und beginnt dann zu lesen. “Doch rauchen die meisten Männer, weil sie so mit anderen Männern reden können.”, ist da zum Beispiel zu hören. In “Treue” geht es um den US-amerikanischen Mythos von Männern, Macht und Reichtum. Es sei ein vielschichtiger Roman, indem Benjamin Rasks bestens versteht sein Geld zu vermehren, sich aber vor allem für die Grammatik hinter dem Geld interessiere. Später gehe es dann aber doch um etwas ganz anderes, die Liebe. “Was als klassischer Roman über Macht und Männer beginnt, gipfelt in einer provokanten und hochmodernen Geschichte der Emanzipation.”, schreibt “Oberwesel liest” auf der Website. Wir unterbrechen die Lesung für eine neue Runde Falafelspieße und Knackwürste für die Fleischesser*innen. An alle wird gedacht! Im Hintergrund fahren Schiffe vorbei und Züge, die sich in der Scheibe hinter Christian Büning spiegeln. Die Lesung dauert etwa 30 Minuten, danach komme ich noch kurz mit Christian ins Gespräch.

Weiter geht es zum Haagsturm, der auch der Rote Turm genannt wird. Auf dem Weg erzählt Marcel D`Avis etwas zur Stadtgeschichte z.B. über die Brunnengemeinschaft und wie sich früher die Nachbarschaft um die Brunnen kümmerte und von diesem Einsatz die Wasserqualität abgeleitet wurde.

Haagsturm: Kultur im Turm

Der Rote Turm ist als Kulturort und Galerie bereits Vielen bekannt. Barbara Höhn und ihr Mann wohnen hier, wo einst der Künstler Carl Haag malte. Allein der Mauerweg zum Turmeingang ist mit Tonfiguren und Pflanzen geschmückt und lädt zum Entdecken und Verweilen ein. Im Inneren gibt es ebenfalls so viel zu betrachten und mir wird klar: Hier komme ich auf jeden Fall noch einmal in Ruhe wieder. Barbara Höhn lädt mich nach der Lesung auch herzlich ein.

Aber zurück zur Literatur: In einem der Turmzimmer erzählt uns Mechthild Sabel von dem Roman, den sie heute vorstellt. “Lügen über meine Mutter” von Daniela Dröscher. Die Autorin ist im Hunsrück aufgewachsen und so kommen im Buch auch immer wieder Stellen im Dialekt vor, schön authentisch und besonders originell für alle, die den Hunsrücker Dialekt nicht kennen. Der Roman ist aus der Perspektive der Tochter geschrieben, die über ihre Mutter erzählt. Ein Thema prägt das Familienleben besonders: das Gewicht der Mutter. Für den Vater der Grund für die eigenen Probleme. Der täglichen Beleidigungen des Vaters zum Trotz behält die Mutter ihren eigenen Kopf. Der Autorin “gelingt ein ebenso berührender wie kluger Roman über subtile Gewalt, aber auch über Verantwortung und Fürsorge.” Auf der kleinen Bewertungskarte bekommt die Geschichte bei mir einen lachenden Smiley, vielleicht lese ich das Buch sogar mal.

Neuer Ort: der Gelbe Turm

Drei andere Teilnehmerinnen und ich bleiben noch und schwatzen, schwups ist schon die nächste Gruppe vor der Tür. Jetzt aber schnell, sonst verpassen wir noch den Anschluss. Wir haben Glück, unsere blaue Gruppe wartet unten und so gehen wir gemeinsam zum nächsten Ort: dem Gelben Turm. Die Location ist zum ersten Mal bei “Oberwesel liest” dabei und auch Kathrin Martin, die seit zwei Jahren in Oberwesel lebt, ist neu im Vorlese-Team. Sie liest verschiedene Passagen aus Alex Capus Roman “Königskinder”, der auf einer wahren Geschichte beruht. Max erzählt im eingeschneiten Auto seiner Freundin Tina die Geschichte von Marie, der Tochter eines reichen Bauerns und Jakob, einem Knecht und späteren Hirten aus dem Greyerzerland. Maries Vater hat etwas gegen die Liebe der beiden und so erinnert die Geschichte an berühmte Vorbilder wie Romeo und Julia. Die Handlung wird aber gekonnt mit dem Erlebnissen von Tina und Max verwoben.

Auch in diesem Raum, mit Ausblick auf die Liebfrauenkirche, gibt es Einiges zu entdecken: Geweihe, Bilder, alte Flaschen. 2016 hat Martin Lenhard den Gelben Turm erworben. Mehr über den Kauf, Renovierungsarbeiten und seinen Lieblingsort hat er mir nach der Lesung erzählt.

Blick von der Dachterrasse des Gelben Turms.

Schmelzwasser auf der Terrasse

Die letzte Station unserer Gruppe ist nicht weit entfernt, wir laufen an einer Tafel, die an den ehemaligen jüdischen Friedhof erinnert, vorbei, streifen die evangelische Kirche und gelangen zur Terrasse Milly Rathmer. Dort wartet bereits Monika Lipp auf uns. Bevor sie zu lesen beginnt, werden erstmal Sekt und Kuchen verteilt. Auf den Roman “Schmelzwasser” von Patrick Tschan bin ich bereits gespannt. Der Titel hat mich neugierig gemacht. Und ich werde nicht enttäuscht. Kurz nach dem Ende des 2. Weltkriegs eröffnet die Buchhändlerin Emilie Reber eine Leihbücherei am Bodensee. Sie liebt Bücher wie Kinder und möchte mit ihrer Buchauswahl dem Verdrängen der Gräueltaten der Nazizeit entgegenwirken.

Der Titel “Schmelzwasser” könnte auf das Tauwetter anspielen, dem Wechsel zwischen zwei Jahreszeiten, übertragen auf die Zeit zwischen Krieg und Nachkriegszeit, meint Monika Lipp. Das hätte sie sich mit der vorherigen Gruppe im Austausch nach der Lesung überlegt. Dieses Buch regt auch bei uns Gespräche an und so laufen wir angeregt Richtung Liebfrauenkirche. Für alle, die noch ein wenig mehr Lust auf Einblicke in die vier Lesungen haben, gibt es hier ein Video von den Lesenden.

Zum Abschluss liest um 18 Uhr ein Duo in der Liebfrauenkirche aus “Ein Mann mit vielen Talenten” von Castle Freeman: Pfarrer Wolfgang Krammes und Pastor Joachim Fey. “Ich brauche keinen Führer!”, wird da gerufen. Aber wenig später lässt sich Taft doch auf Dangerfield, den modernen Mephisto ein. “Freeman besticht durch lakonische Dialoge und tiefe Kenntnis der menschlichen Psyche und sorgt einfach nur – sehr, sehr komisch – für gute Laune.” Die beiden Vorleser haben auch sichtlich Spaß an der Geschichte und transportieren diesen gekonnt aufs Publikum. Mein Kopf ist aber tatsächlich so langsam voll mit Worten und freut sich über das abschließende Orgelkonzert von Franz Leinhäuser.

Im Garten steht bereits der Büchertisch von Schreib- und Spielwaren Hermann und wer möchte kann sich die vorgestellten Bücher kaufen. Ich schnappe mir Organisatorin Monika Seckler und wir setzen uns auf eine Bank im Schatten. Sie erzählt mir mehr darüber, wie sie das Projekt startete, Bücher aussucht und wie es im nächsten Jahr weiter gehen wird.

Der Ausklang wird natürlich auch für Gespräche genutzt: Das Team von “Oberwesel liest” kommt zusammen, Wein wird eingeschenkt und der Erfolg der Veranstaltung gefeiert. Ich erhalte noch Tipps für den Abend, tausche Nummern aus und fahre mit allen Sinnen gefüllt von dannen. Wie schön, wieder einige neue Menschen kennen gelernt zu haben!

5 Kommentare

  1. Hallo liebe Marie, wie immer ein toller Beitrag, sorry Blog, informativ, sympathisch, frisch, natürlich. So gewinnt man Follower. (Antwort von Andreas und meine)
    Immer wieder Glückwunsch! Elli
    PS.: Beitrag Martin Lenhard der Gelben Turm ist nicht beendet worden!?? – Was willst du für eine Website wissen?

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert