Die Rettung der Mittelrhein-Kirsche

Mittelrheinkirsche

Noch bevor ich diesen Artikel richtig beginne, muss ich mich selbst korrigieren. Meine Überschrift ist irreführend. Denn es gibt nicht „die“ Mittelrheinkirsche. Es gibt ganze 88 davon. Sorten, nicht Kirschen. Die erste von vielen erstaunlichen Informationen, die mir bei meinem Besuch im beschaulichen Örtchen Filsen begegnet sind. Dort habe ich Frank Böwingloh getroffen, der in den Medien wahlweise als „Kirschen-Experte“ oder „Mann der Kirschen“ bezeichnet wird. Ich selbst habe ihm innerlich den eindrucksvollen Namen Kirschpapst gegeben, nenne ihn aber einfach Frank.

Per Zufall zum Kirschen-Experten

Frank Böwingloh ist gelernter Gärtner und Landschaftsarchitekt. Er begrüßt mich in Strohhut und Activewear, neben einem Geländewagen stehend, der in der schmalen Oberstraße viel zu groß aussieht. Damit befördert er uns den Hang hinauf Richtung Kirschpfad, von dem ich bisher nicht mehr kenne als einen knallroten Doppelkirschen-Sessel, der mir diverse Male auf Instagram begegnet ist.

Frank arbeitet seit 2004 im Bereich Landentwicklung und Ländliche Bodenordnung beim Dienstleistungszentrum Ländlicher Raum, kurz DLR. In dieser Funktion ist er unter anderem für die Flurbereinigung in seinem Einsatzgebiet zuständig. Unter Flurbereinigung versteht man die Zusammenlegung kleiner Grundstückseinheiten zu größeren Geländen, auf denen dann vereinfachte Bedingungen für eine landwirtschaftliche Nutzung herrschen.

Obstanbau in Filsen: Wiederentdeckung eines Alleinstellungsmerkmals

Wir parken wenige Meter neben den Kirschsesseln. „Eine meiner ersten Amtshandlungen war, nach Filsen zu fahren und zu schauen, was man hier machen kann“, erzählt Frank und hängt sich eine grüne Tasche mit rot-orangenem Kirschen-Print um. „Die 150-jährige Geschichte des hiesigen Obstanbaus war ein Alleinstellungsmerkmal. Wir wollten das irgendwie erhalten, aber trotzdem einen neuen Schwung reingeben. Modernen Obstanbau hier umzusetzen, war sehr schwierig bis unmöglich. Es hätte in das Landschaftsbild und in die Geschichte nicht reingepasst.“

Frank Böwingloh

Früher – wir sprechen vom 19. Und 20. Jahrhundert, besonders in den Jahren nach dem 1. und 2. Weltkrieg – habe hier aufgrund des Standortvorteils der Obstanbau geboomt. Die Region um Filsen sei einer der wärmsten Standorte in Deutschland, die Kirschen entsprechend früh reif. Damals haben es die Filsener Früchte bisweilen bis nach London geschafft.

Eine Marke für die Region: Die Mittelrheinkirsche

Wir blicken über eine breite Allee hinunter, deren Bäume kaum noch Früchte tragen. Die Kirsch-Hauptsaison habe ich – wegen der just erwähnten frühen Reife – schon verpasst. „Bis 2008 hatte keiner die Mittelrheinkirsche auf dem Schirm“, sagt Frank. In dem Jahr wurde das Projekt „Mittelrheinkirsche“ und damit eine intensive Forschungsoffensive begonnen.

Die Pomologin Dr. Annette Braun-Lüllemann stöberte rund vier Jahre lang alle Lokal- und Regionalsorten zwischen Koblenz und Ingelheim auf. Die Pomologie ist ein Teilgebiet der Botanik und befasst sich mit Obstsorten und Obstbau. 2.000 Bäume untersuchte die Expertin in dieser Zeit und fand so heraus, dass es am Mittelrhein ganze 143 Steinobstsorten gibt, davon allein 88 Kirschvarianten. Bundesweit habe nur das Alte Land mehr Lokal- und Regionalsorten, erzählt Frank.

Die Anbauhistorien einiger Sorten konnte Dr. Annette Braun-Lüllemann bis 1825 zurückverfolgen. Sie fand unter anderem heraus, dass es früher verschiedene „Anbauregionen“ am Mittelrhein gab, in denen jeweils ortsspezifische Sorten angebaut wurden. Deshalb tragen viele Sorten noch heute Ortsnamen, zum Beispiel die „Perle von Filsen“.

Den Untertitel „Kirschdorf“ trägt Filsen seit ca. 2011. Die damalige BUGA nutzten Böwingloh und sein Team für eine erste Marketing-Offensive rund um das Steinobst. Und die fruchtete. Seither manifestierte sich ein Interesse – nicht nur beim Publikum, sondern auch beim Zweckverband und bei der Verwaltung.

Die 3,5 ha große Anlage, auf der wir uns befinden, wurde anschließend an Dr. Braun-Lüllemanns Forschung nach und nach mit allen am Mittelrhein aufgefundenen Steinobstsorten bepflanzt, um ein natürlich Konservatorium für die besonderen Früchte zu schaffen. Der Sortengarten ist Partner der Deutschen Genbank Obst und damit freiwillig zu Sortenerhalt und -Dokumentation verpflichtet. Allein durch den Verkauf von Pflanzgut über den Zweckverband haben schon ca. 3.000 Bäume ihren Weg in private Gärten gefunden.

Kirschrot, Kirschschwarz, Kirschgelb – Die vielen Gesichter der Mittelrheinkirsche

Wir passieren die Reihe „Farben und Formen“, die so bepflanzt ist, dass die Kirschen aufeinander abgestimmt versetzt reifen. Wundersame Namen haben sie. „Die späte Spanische“ oder die „Schöne von Chatenay“. Letztere darf ich sogar probieren, einige wenige gelb-rosa Früchte hängen noch am Baum.

„Die typischen Kirschen von hier sind bunt“, sagt Frank Böwingloh. „Die Besucher lassen bestimmte Kirschen leider immer hängen, weil sie denken, die sind nicht reif. Die dunklen Kirschen werden aber immer weggegessen.“ Er lacht.

Mittelrheinkirschen sind größtenteils Herzkischen, eine etwas weichfleischigere Form, die wir im Supermarkt nicht finden. In den Einzelhandel schaffen es im Regelfall nur Knorpelkirschen, die fester und haltbarer sind. Die Chatenay, die er mir hinhält, sei eine seiner Lieblingssorten, weil sie so eine spannende Säure mitbringe. Die Frucht erinnert geschmacklich an einen wertigen Fruchtessig, mit leicht herbem Abgang.

Über die geschmacklichen Vorzüge der unterschiedlichen Sorten kann Frank stundenlang referieren. Abgesehen von der Pflege des Geländes vermittelt der Kirschen-Kenner seine Passion in „Genusswanderungen“, die Informatives mit Schmackhaftem verbinden. Sogar Kochkurse gibt er, denn von süß bis herzhaft, von der Blüte bis zum Fruchtfleisch kann man Kirschen auf alle erdenklichen Arten verarbeiten.

Der Geschmack vom Mittelrhein liegt nicht nur im Wein

Angekommen auf einer großen Obstwiese am Hang, beginnt Frank Böwingloh emsig nach brauchbaren Aprikosen zu suchen. Ich darf Heidesheimer Frühe probieren – ebenfalls eine absolute Köstlichkeit, meilenweit weg von herkömmlichen Supermarkt-Aprikosen. Die Bäume kommen ohne Pflanzenschutz aus. Dementsprechend kann es sein, dass man im ein oder anderen Obststück Leben vorfindet – in meinem Fall ist eine kleine Spinne, die es sich in einer Aprikosenmulde gemütlich gemacht hat.

Im Rahmen des Erhaltungsprojekts sollte dem vorhandenen Ökosystem nicht geschadet werden. Deshalb wurde und wird das Gelände sehr behutsam bewirtschaftet. Verknüpft über den Zweckverband Welterbe Oberes Mittelrheintal kümmern sich Kreisverwaltung, Zweckverband, DLR und örtliche Freiwillige kooperativ um das Gelände.

Auf einer Trockenmauer unweit der Aprikosenwiese öffnet Frank endlich seine quietschbunte Kirschtasche und zieht zwei Likörgläser, ein Marmeladenglas und zwei Minigläschen mit getrockneten Kirschen hervor. Nun will ich es aber noch mal wissen: Gibt es nicht doch eine Kirschsorte, die beispielhaft für den Mittelrhein steht? Wenn, dann sei das die fröhlich orange-rote Herzkirsche „Geisepitter“, erzählt Frank. Sie wurde einst im großen Stil in der Konservenindustrie verarbeitet.

Die bekomme ich zwar nicht zum Probieren, dafür aber die kräftig-süße „Burlat“, die in ihrer getrockneten Form fast etwas Pflaumiges an sich hat, und die fruchtige Sauerkirsche „Diemitzer“, deren Aroma an Konservenkirschen erinnert.

Zum krönenden Abschluss gibt es die 1917 entdeckte „Perle von Filsen“, eingemacht als „Sonnenkirsche“. Das ist eine Art der Konservierung, die Frank in Südfrankreich entdeckt hat. Kirschen, Zucker und Alkohol werden in ein Glas gegeben und müssen bei hohen Temperaturen einige Wochen ziehen. So entstehen ein aromatischer Kirschlikör und leicht gelierte, marzipanig schmeckende Früchte. Absolut köstlich. Dazu der wunderbare Blick auf Boppard – so ein Kirsch-Picknick könnte ich öfter machen.

Der Kirschen-Experte hat schon recht, wenn er sagt: „Ich krieg die Leute vor allem übers Verkosten.“ Den Geschmack der Mittelrheinkirschen kennenzulernen, bedeutet auch, ihre Vielfalt zu begreifen.


2 Kommentare

  1. Toller Artikel! Jetzt leben wir seit gut 5 Jahren am Mittelrhein – die Kirschen sind aber irgendwie an uns vorbeigegangen. Was vielleicht auch leider daran liegt, dass man einfach den Weg auf die andere Rheinseite nicht hinbekommt (auch vom Kopf her).

    1. Ich freue mich, dass ich euch eine neue Perspektive eröffnen konnte! 🙂 Happy Cherry Picking!
      Das mit der Rheinseite kennen wir am Niederrhein auch. Angeblich gibt es da ein „Richtig“ und „Falsch“. Ich für meinen Teil kann beiden Seiten viel abgewinnen! 🙂

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